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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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annehmen könnte. Eines der Themen meiner Arbeit über Schulden ist das starke moralische Empfin den , das mit ihnen einhergeht. Schuldner leiden oft genug unter Gefühlen wie Schande und Scham, die sich gegen die Gläubiger und gegen sich selbst richten, und sie quälen sich damit herum, ein vermeintlich schlechter Verlierer in einem Spiel zu sein, zu dem sie schließlich niemand gezwungen hat. Selbstverständlich bleibt einem Amerikaner, der sein Leben nicht als UPS-Fahrer, Tellerwäscher, Verkäufer oder in einem anderen Job ohne Sozialleistungen verbringen möchte (allein eine unvorhergesehene Krankheit kann so ein Leben zerstören!), nichts anderes übrig, als den höheren Bildungsweg einzuschlagen. Und das wiederum bedeutet, sein Erwachsenenleben als Schuldner zu beginnen. Und wer dies tut, muss sich behandeln lassen, als habe er bereits verloren.
    Einige der Geschichten, die ich in diesem Zusammenhang gehört habe, waren ganz außergewöhnlich. Ganz besonders erinnere ich mich noch an eine gesetzte junge Frau, die mich nach einer Lesung in einem linken Buchladen angesprochen und mir erzählt hat, sie hätte kürzlich aneiner unserer Eliteuniversitäten über die Literatur der Renaissance promoviert:

    »Folge ist, ich habe 80 000 Dollar Schulden, und so, wie der Arbeitsmarkt für Akademiker derzeit aussieht, keine Chance, einen Job als Professorin mit Aussicht auf Festanstellung zu bekommen. Bestenfalls ist eine Assistentenstelle drin, von der ich noch nicht mal die Miete bezahlen kann, vom monatlichen Schuldendienst ganz zu schweigen. Weißt du, was ich schließlich gemacht habe? Ich arbeite bei einem Escort-Service! Es ist so ziemlich die einzige Möglichkeit, genügend zu verdienen, um auch nur darauf hoffen zu können, da je wieder rauszukommen. Nicht dass du mich falsch verstehst, ich bedaure die Jahre an der Uni nicht einen Augenblick, aber du musst zugeben, dass das alles eine ziemliche Scheiße ist.«

    Mir ist diese Episode deshalb so stark in Erinnerung, weil sie das Ausmaß deutlich macht, in dem qualifizierte Arbeitskraft verschwendet wird und eine Schuldenlast nicht nur hart, sondern auch entwürdigend ist. Immerhin wissen wir alle, welche Art von Leuten teure Hostessen in New York frequentieren. Diese Expertin in Sachen Renaissance-Literatur sah sich im Grunde in eine Situation gezwungen, in der die einzige Möglichkeit, ihren Kredit zurückzubezahlen, darin bestand, die sexuellen Fantasien ebender Leute zu erfüllen, die ihr das Geld geliehen hatten.
    Es waren Geschichten wie diese, die ich im Hinterkopf hatte, als ich den Artikel für den
Guardian
schrieb:

    »Wir beobachten die Anfänge trotziger Selbstbehauptung einer neuen Generation von Amerikanern, einer Generation, die dem Ende ihrer Ausbildung entgegensieht, ohne Zukunft, ohne Aussicht auf einen Job, und sich dennoch mit enormen und unverzeihlichen Schulden belastet sieht. Die meisten von ihnen, so habe ich festgestellt, kommen aus der Arbeiterklasse oder anderweitig bescheidenen Verhältnissen; es sind Kinder, die genau das getan haben, was man ihnen gesagt hat, sie lernten, gingen aufs College und sehen sich jetzt nicht nur dafür bestraft, sondern auch noch gedemütigt angesichts eines Lebens, in dem man sie als Faulenzer, als moralische Taugenichts sieht. Muss es wirklich überraschen, dass sie gern ein Wörtchen mit den Finanzmagnaten reden würden, die ihnen ihre Zukunft gestohlen haben?
    Wie in Europa sehen auch wir das Resultat eines kolossalen gesellschaftlichen Scheiterns. Bei den Besetzern handelt es sich um genau die Art von Leuten, Menschen voller Ideen, deren Energien eine gesunde Gesellschaft dazu einspannen würde, das Leben aller zu verbessern. Stattdessen benutzen sie sie, um sich Mittel und Wege zum Sturz des ganzen Systems auszumalen.« 6

    Sicher, die Bewegung hat sich seitdem ausgeweitet, aber ich denke, dass das immer noch gilt. Es ist aufschlussreich, die Occupy-Bewegung in dieser Hinsicht der Tea Party gegenüberzustellen, mit der sie so oft verglichen wird. Demografisch ist die Tea Party im Kern eine Bewegung von Menschen mittleren Alters, die fest etabliert sind. Im Jahr 2010 waren laut einer Umfrage 78 Prozent dieser rechten Populisten über 35 und etwa die Hälfte über 55 Jahre alt. 7 Das hilft auch erklären, weshalb ihre Einstellung zu Schulden der der Besetzer diametral gegenübersteht. Sicher, sowohl die Anhänger der Tea Party als auch die von Occupy sind im Prinzip gegen die Hilfsmaßnahmen für die

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