Inside Occupy
die Tumblr-Seite zum ersten Mal überflog, fiel mir auf, dass vor allem Frauen sich dort zu Wort meldeten und die Betonung nicht allein auf dem Erwerb der Mittel für ein akzeptables Leben lag, sondern dass auch von den Mitteln, sich um andere kümmern zu können, die Rede war. Es lässt sich nicht übersehen, wie viele von denen, die da ihre Lebensgeschichte erzählen, in Berufen tätig sind oder tätig sein wollen, in denen man sich um andere kümmert: Gesundheitswesen, Gemeindearbeit, soziale Einrichtungen. Aber hinter der schrecklichen Eindringlichkeit so vieler dieser Schilderungen steckt eine unausgesprochene Ironie: Wer sich im heutigen Amerika zu einem sozialen Beruf entschließt, landet für gewöhnlich in derart beschränkten Verhältnissen, dass er sich nicht einmal richtig um die eigene Familie zu kümmern vermag. Er oder sie kann kein Geburtstagsgeschenk für die Tochter kaufen, muss zusehen, wie sie die Symptome einer Diabetes entwickelt, ohne mit ihr zum Arzt gehen zu können, muss seine todkranke Mutter pflegen, ohne genug Zeit für sie aufbringen zu können.
Es gab einmal eine Zeit, in der das Paradigma des politisch selbstbewussten Angehörigen der Arbeiterklasse männlich und Ernährer der Familie war – heute ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine alleinstehende Mutter. Arbeitete der Mann in einer Autofabrik oder einem Stahlwerk, so ist sie Lehrerin oder Krankenschwester. Frauen gehen mit größerer Wahrscheinlichkeit aufs College, machen mit höherer Wahrscheinlichkeitihren Abschluss und enden mit höherer Wahrscheinlichkeit in der Armut. 14 Darüber hinaus beginnt diese Konvergenz unsere Auffassung von Arbeit an sich zu verändern. Und hier, denke ich, liegt Konczal falsch: Es ist nicht so, dass die 99-Prozent-Bewegung die Würde der Arbeit verwirft. Ganz im Gegenteil. Sie erweitert unsere Auffassung von sinnvoller Arbeit vielmehr, indem sie alles einschließt, was wir nicht für uns selbst tun.
Sich nicht drauf einlassen
4. Frage:
Warum schien die Weigerung, Forderungen zu stellen oder sich auf die Bedingungen des bestehenden politischen Systems einzulassen, die Bewegung eher verlockender zu machen als unattraktiv?
Man sollte meinen, Menschen in einer derart verzweifelten Lage wünschten sich eine augenblickliche, pragmatische Lösung ihres Dilemmas. Umso erstaunlicher ist es, dass sie sich von einer Bewegung angezogen fühlen, die sich kategorisch weigert, direkt an eine der bestehenden politischen Institutionen zu appellieren.
Das überraschte vor allem die Vertreter der Medienkonzerne. Die meisten Berichterstatter zogen es einfach vor, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was da vor ihren Augen geschah. Angefangen mit dem ersten – abscheulichen – Artikel von Ginia Bellafante in der
New York Times
handeln wir uns seitens der großen Medienunternehmen den endlosen Vorwurf ein, es mangele der Bewegung an Ernsthaftigkeit – wegen ihrer Weigerung, eine konkrete Liste von Forderungen aufzustellen. Fast jedes Mal, wenn mich ein Journalist der Mainstreammedien zu Occupy Wall Street interviewt, muss ich mir die eine Variante ein und desselben Vortrags anhören:
»Wie wollen Sie etwas erreichen, wenn Sie sich weigern, für eine Führungsstruktur zu sorgen oder eine konkrete Liste von Forderungen aufzustellen? Und was soll dieser Anarchistenunsinn – Konsens, die Handzeichen etc.? Sehen Sie nicht, dass Sie mit dieser Radikalensprache die Leute verprellen? Den Mainstream, den amerikanischen Normalverbraucher, erreichen Sie mit so etwas nie!«
Die Fragen, warum OWS die Einrichtung einer strukturierten Führung verweigert und warum wir keine konkrete Grundsatzerklärung herausgeben,laufen natürlich auf ein und dasselbe hinaus: Warum klinken wir uns nicht als Opposition in die bestehenden politischen Strukturen ein, um sie letztendlich von innen zu bekämpfen?
Würde man eine Hitliste der schlechtesten Ratschläge aller Zeiten zusammenstellen, stünde der hier ziemlich weit oben. Seit dem Finanzcrash von 2007 hat es zahllose Versuche gegeben, unter diesem Vorzeichen eine landesweite Bewegung gegen die Raubzüge von Amerikas Finanzelite loszutreten. Sie sind alle gescheitert. Die meisten kläglich. Erst als eine Bewegung auf den Plan trat, die sich kategorisch weigerte, einen solchen Weg einzuschlagen, eine Bewegung, die die bestehende politische Ordnung in Bausch und Bogen als korrupt verwarf und einen totalen Neuanfang für Amerikas Demokratie verlangte, erst da begannen urplötzlich
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