Inside Occupy
überall im Land Besetzungen aus dem Boden zu sprießen. Keine Frage, die Bewegung ist nicht trotz der anarchistischen Elemente zustande gekommen. Vielmehr verdankt sie ihnen ihren Erfolg.
Aus der Perspektive eines undogmatischen Anarchisten wie mir – das heißt einem, der in breiten Koalitionen zu arbeiten bereit ist, solange sie nach horizontalen Prinzipien vorgehen – ist das natürlich genau das, wovon wir immer geträumt hatten. Jahrzehntelang hatten wir in der anarchistischen Bewegung unsere ganze kreative Energie auf die Entwicklung von Formen egalitären politischen Handelns verwandt, die auch wirklich funktionieren, auf Formen direkter Demokratie in selbstverwalteten Gemeinschaften außerhalb des Staates. Unser ganzes Projekt basiert auf dem Glauben, dass Freiheit ansteckend ist. Wir wussten immer schon, dass es praktisch unmöglich ist, den durchschnittlichen Amerikaner von der Machbarkeit einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft zu überzeugen. Aber es besteht die Möglichkeit, sie ihnen zu zeigen. Die konkrete Erfahrung, eine Gruppe von ein- oder zweitausend Menschen ohne strukturierte Führung kollektive Entscheidungen treffen zu sehen, die Erfahrung, wie sich Tausende von Menschen auf der Straße, nur von ihren Prinzipien und ihrer Solidarität motiviert, im Schulterschluss gegen eine Phalanx gepanzerter Bereitschaftspolizisten behaupten – so etwas kann selbst die elementarsten Annahmen darüber ändern, wie Politik oder, ja, eigentlich das Leben überhaupt aussehen könnte.
In den Tagen des Global Justice Movement Ende der 90er Jahre meinten wir, genügend Leute rund um den Globus diesen neuen Formen direkter Demokratie, diesen Traditionen direkter Aktion aussetzen zu können, um die Anfänge einer neuen globalen demokratischen Kultur aufkommen zu sehen. Aber wir kamen nie wirklich aus dem Aktivistenghetto heraus; die meisten Amerikaner wussten noch nicht einmal, wie sehr wir uns die Basisdemokratie auf unsere Fahnen geschrieben hatten. Die Antikriegsbewegungen nach 2003 mobilisierten Hunderttausende, aber sie machtenden Fehler, auf die veraltete vertikale Politik hierarchischer Koalitionen zurückzugreifen, auf charismatische Führer und darauf, mit Spruchbändern herumzumarschieren. Viele von uns Unentwegten gaben ihre Überzeugungen nicht auf. Wir warteten auf die richtige Gelegenheit. Nur kam uns so langsam der Glauben abhanden, wirklich gewinnen zu können, ohne dass wir das selber gemerkt hätten.
Und dann passierte es doch. Als ich das letzte Mal im Zuccotti Park war – ich meine: vor der Räumung – und zusah, wie Bauarbeiter im besten Alter und Latino-Hip-Hop-Künstler alle unsere alten Handzeichen bei Großversammlungen einsetzten, gestand mir meine alte Freundin Priya Reddy, die Ökoanarchistin und ehemalige Baumbesetzerin, die mittlerweile im Park als offizielle Videodokumentaristin fungierte: »Ich muss mich alle paar Stunden kneifen, um mir klarzumachen, dass ich das nicht alles träume.«
In den ersten beiden Jahren nach dem Kollaps von 2008 hatte sich so mancher ratlos gefragt, warum da so gar nichts passierte, und jetzt auf einmal lautet die ganz große Frage nicht nur, warum nach all der Zeit endlich eine Anti-Wall-Street-Bewegung einschlug, sondern warum ausgerechnet in dieser Form. Auch hier bieten sich erste offensichtliche Antworten an. Wenn etwas, sofern sie nicht selber der politischen Klasse angehören, fast alle Amerikaner eint, ob rechts oder links, dann ist es ein Widerwille gegen Politiker. Insbesondere »Washington« wird als fremdartiges, von Grund auf korruptes Gebilde von Macht und Einfluss emp funden . Und dass es nur als verlängerter Arm der Wall Street existiert, lässt sich seit 2008 fast unmöglich ignorieren. Und dennoch erklärt das nicht die umfassende Ablehnung bestehender politischer Einrichtungen jeglicher Art.
Eine triftigere Antwort ist meiner Ansicht nach einmal mehr generationsbedingt. Der Refrain der ersten Besetzer im Zuccotti Park war: »Ich habe mich an die Regeln gehalten. Ich habe alles genau so gemacht, wie man es mir beigebracht hat. Und was habe ich jetzt davon?« Und genau das ließe sich auch über die Erfahrungen junger Leute mit der Politik sagen.
Die meisten Amerikaner Anfang zwanzig machten ihre ersten Erfahrungen mit politischem Engagement in den Wahlen von 2006 und 2008, an denen sich etwa doppelt so viele junge Leute beteiligten wie üblich, die ihre Stimmen mit überwältigender Mehrheit den Demokraten gaben. Obamas
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