Inside Occupy
auch nicht, dass die Hüter der bestehenden Ordnung dies sofort als das identifizierten, was es war, und darauf reagierten wie auf eine militärische Provokation.
Kapitel 3
»Der Mob beginnt zu denken und zu räsonieren«:
Die verborgene Geschichte der Demokratie
Als Radikaler finde ich es oft merkwürdig erfrischend, wenn ausgemach te Konservative gesellschaftliche Bewegungen beschreiben, an denen ich persönlich beteiligt bin. Ich habe es ja vor allem mit Liberalen zu tun. Liberale sind von Haus aus eher empfindlich und unberechenbar, weil sie zwar die meisten unserer Ideale – Demokratie, Freiheit, Gleichheit – zu teilen behaupten, diese aber letztlich längst für unerreichbar halten und aus ebendiesem Grund jeden, der entschlossen eine auf diese Prinzipien gebaute Welt herbeiführen möchte, als eine Art moralische Bedrohung ansehen.
Mir fiel das bereits während der Zeit des Global Justice Movement auf. Viele der »liberalen Medien« schienen der Bewegung mit einer Art mokanter Stacheligkeit zu begegnen, die auf ihre Art nicht weniger ätzend war als alles, womit die Rechte so nach uns warf – teils, so argwöhnte ich damals schon, weil so viele dieser liberalen Meinungsmacher in den Sechzigern aufs College gegangen sind. Die meisten halten sich deshalb für ehemalige Campus-Revolutionäre, die mittlerweile zu dem Schluss gekommen sind, dass sie sich, auch wenn sie jetzt für das Establishment arbeiten, dennoch nicht wirklich verkauft haben, weil ihre einstigen revolutionären Träume von vorneherein zutiefst unrealistisch waren.
Entsprechend ist ihr Eintreten für die Abtreibung oder die Schwulenehe für sie in etwa so radikal, wie man das als Realist eben sein kann. (Wenn man dann nachhakt, stellt sich heraus, dass sie nie wirklich Revolutionäre gewesen waren. Wie jeder, der in den Sechzigern Campus-Aktivist war, Ihnen sagen kann, war die Apathie unter den Studenten damals nicht weniger verbreitet als heute. Nicht dass das hier eine Rolle spielen würde; es geht bloß um das Lebensnarrativ, das sie sich geschaffen haben.) In dem Augenblick, in dem sich herausstellt, dass diese revolutionären Träume so unrealistisch gar nicht waren, bricht ihr Lebensnarrativ selbstredend zusammen.
Bei Konservativen weiß man wenigstens, woran man ist: Sie sind der Feind! Wenn sie uns zu verstehen versuchen, dann nur, um unsere gewaltsame Unterdrückung zu erleichtern. Was eine gewisse Klarheit der Fronten bringt. Es bedeutet aber auch, dass sie einen oft tatsächlich verstehen wollen.
In den Anfangstagen von OWS erfolgte die erste Breitseite der Rechten durch einen längeren Essay von Matthew Continetti mit dem Titel »Anarchy in the U.S.A. The roots of American disorder« im
Weekly Standard
. 1 »Sowohl die Linke als auch die Rechte«, so argumentierte er, »sind der irrigen Ansicht verfallen, die Kräfte hinter Occupy Wall Street seien an demokratischer Politik und Problemlösung interessiert.« Ja, ihr Kern bestehe gar aus Anarchisten, die von einem utopischen sozialistischenParadies träumten, das nicht weniger absonderlich sei als im 19. Jahrhundert New Harmony 2 oder die Phalangen Fouriers 3 . Continetti zitiert dazu Vertreter des zeitgenössischen Anarchismus, in der Hauptsache Noam Chomsky und mich:
»Diese permanente Rebellion führt zu einigen absehbaren Resultaten. Indem sie die Legitimität demokratischer Politik bestreiten, untergraben die Anarchisten ihre Möglichkeiten, das Leben der Leute zu beeinflussen. Der Kampf um Mindestlöhne? Nichts für sie. Ebenso wenig wie eine Debatte über Bushs Steuersätze. Anarchisten glauben nicht an Löhne und schon gar nicht an Steuern. David Graeber, Anthropologe und einer der führenden Köpfe von Occupy Wall Street, drückt das so aus: ›Durch die Teilnahme an politischen Debatten erreicht man allerhöchstens eine Schadensbegrenzung, da schon die Prämisse an sich dem Gedanken zuwiderläuft, dass die Leute die Regelung ihrer Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.‹ Der Grund dafür, dass Occupy Wall Street keinen Plan hat, ist der, dass im Anarchismus kein Platz für einen Plan ist. Alles, was der Anarchist tun kann, ist, ein Beispiel zu geben – oder die bestehende Ordnung mit Gewalt einzureißen.«
Dieser Absatz ist typisch: Er wechselt zwischen tatsächlichen, legitimen Einsichten und einer Reihe kalkulierter Verunglimpfungen und Andeutungen, die provozieren sollen. Es stimmt durchaus, dass wir Anarchisten, wie ich gesagt habe, uns dem politischen
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