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Inside Occupy

Inside Occupy

Titel: Inside Occupy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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Regierungsgewalt. Ihre Rolle bestand lediglich darin, vor dem Souverän für die Bewohner ihresBezirks zu sprechen (sie vor ihm zu »vertreten«), ihren Rat anzubieten, Klagen vorzubringen und, vor allem, darin, die Steuern ihres Bezirks abzuliefern. Erst nach der Revolution von 1688 konnte das Parlament das Recht durchsetzen, ein Wörtchen bei der Verwendung besagter Steuergelder mitzureden, womit sie für eine, wie die Gründerväter es nannten, »begrenzte«, i.e. konstitutionelle Monarchie sorgten. Trotzdem war der amerikanische Gedanke, demzufolge das Volk durch die Wahl von Vertretern tatsächlich die – zuvor den Königen vorbehaltene – souveräne Macht ausüben konnte, eine echte Neuerung und wurde auch sofort als solche erkannt. 11
    Da der amerikanische Unabhängigkeitskrieg im Namen des »Volkes« geführt worden war, musste nach Ansicht der Gestalter des neuen Amerika deshalb an irgendeinem Punkt auch »das ganze Volk« zu Rate gezogen werden. Sinn und Zweck der Verfassung jedoch war einzig und allein, dafür zu sorgen, dass diese Hinzuziehung extrem beschränkt blieb, damit eben keine »Schrecken der Demokratie« zu gewärtigen wären. Rom galt dabei als Ideal, weil dort die perfekte Balance zwischen drei elementaren Regierungsprinzipien geherrscht zu haben schien, die man in allen bekannten Formen menschlicher Gesellschaft als gegeben sah: Demokratie, Aristokratie und Monarchie. Die römische Republik verfügte über zwei (vom Senat gewählte) Konsuln, die die monarchische Funktion erfüllten, über eine permanente Patrizierklasse von Senatoren und schließlich über Volksversammlungen, die ihrerseits eine begrenzte Macht hatten, ihre Magistrate jedoch unter aristokratischen Kandidaten wählten, darüber hinaus über zwei Tribunen, die selbst weder wählen noch den Senat auch nur betreten durften (sie saßen buchstäblich vor der Tür), aber mit Vetorecht gegenüber den Senatsbeschlüssen ausgestattet waren.
    Die amerikanische Verfassung sollte für eine ähnliche Balance sorgen. Die Funktion des Monarchen sollte ein vom Senat gewählter Präsident erfüllen, der Senat selber die Interessen der wohlhabenden Aristokratie vertreten und der Kongress schließlich das demokratische Element repräsentieren, obwohl sein Geltungsbereich – schließlich hatte man die Revolution unter der Parole »keine Besteuerung ohne Vertretung« ausgefochten – größtenteils auf das Einziehen und Ausgeben von Geldern beschränkt blieb. Volksversammlungen jedoch fielen unter den Tisch. Durch die zeitlich begrenzte Wahl von Quasimonarchen und Repräsentanten versuchten die Gestalter der Verfassung eine Art »natürliche Aristokratie« zu schaffen, die sich aus den gebildeten und begüterten Klassen zusammensetzte.
    Verweilen wir etwas bei diesem Punkt. Als die Verfassungsgeber Amerikas von einer »Aristokratie« sprachen, benutzten sie den Begriff im metaphorischen Sinn. Sie waren sich sehr wohl bewusst, dass sie eine neue politische Form schufen, die demokratische und aristokratische Elementemiteinander verband. Schließlich waren seit alters her Wahlen als aristokratische Form der Auswahl von Amtsträgern gesehen worden. Bei Wahlen wählt das Volk aus einer kleinen Anzahl von für gewöhnlich professionellen Politikern, die gescheiter, gebildeter als alle anderen zu sein behaupten, den, den sie für den Besten halten. Das ist es, was »Aristokratie« buchstäblich bedeutet: »die Herrschaft der Besten«.
    Der demokratische Ansatz, wie er weitgehend in der antiken Welt angewandt wurde, aber auch in Städten der Renaissance wie Florenz, war die Lotterie. Im Wesentlichen stellte man eine Liste von Freiwilligen zusammen, prüfte sie auf grundlegende Kompetenz und bestimmte dann einen von ihnen namentlich durch das Los. So hatte jeder Interessierte von entsprechender Kompetenz die gleiche Chance auf ein öffentliches Amt. Außerdem minimierte man dadurch die Parteienbildung, schließlich hatte es keinen Sinn, Versprechungen zu machen, um Wähler für sich zu gewinnen, wenn der Losentscheid den Ausgang der Wahl bestimmte.
    Angesichts der lebhaften Debatten um die relativen Vorzüge von Wahl und Losentscheid bei den Generationen unmittelbar vor den Revolutionen in Amerika und in Frankreich ist es durchaus überraschend, dass die Schöpfer der neuen revolutionären Verfassungen in den 1770er und 1780er Jahren noch nicht einmal daran dachten, sich auf irgendeiner Ebene des Losentscheids zu bedienen – mit einziger Ausnahme des

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