Inside Occupy
nichts Schlechtes, vorausgesetzt, man vergisst dabei nicht, wieso man sich der Bewegung angeschlossen hat. Das ist eine weitere falsche Vorstellung von Konsens. »Aber Konflikte sind doch das Wesen der Politik«, hört man immer wieder. »Wie könnt ihr sie aus der Welt schaffen oder sie nicht wahrhaben wollen?« Was offensichtlich auch gar nicht geht. Nicht dass man es überhaupt versuchen sollte. Die Sache ist bloß die, dass unter uns zum guten Ton gehört, furchtbar freundlich zu sein. Nach dem theatralischen Machogehabe so vieler Radikaler Ende der 60er Jahre, wo es an der Tagesordnung war, auf Stühle zu springen und mit der Faust auf den Tisch zu hauen, ist das zwar ein echter Gewinn. Aber auch der hat seinen Preis. Denn es dauerte nicht lange, bis ein feministisch inspirierter Habitus betonten Zuhörens, demonstrativen Respekts und gewaltfreier Kommunikation in einen für die obere Mittelschicht typischen Cocktailparty-Stil der Artigkeit, der Euphemismen und der Kaschierung peinlicher Berührtheit überzugehen begann. Auf seine Art war dieser Stil für die, die selbst nicht aus der oberen Mittelschicht kommen, nicht weniger repressiv als zuvor das Machogehabe der Radikalen.
In jüngerer Zeit hat die Erkenntnis an Boden gewonnen, dass hier ein Problem besteht, was jedoch an dem bourgeoisen Stil kaum etwas geändert hat. Dennoch, die besten Moderatoren-Trainer haben erkannt, dass man weit besser daran tut, sich zu sagen: Ja, wir sind leidenschaftliche Menschen, wir sind hier, weil uns nicht alles egal ist, und es ist uns ernst mit dem, was wir hier tun; Wut und Frustration zu zeigen ist nicht weniger wichtig (und legitim) als Humor und Liebe. Anstatt all das unterdrücken zu wollen, sollten wir uns besser darüber klar werden, dass eine Gruppe, will sie ihre Ziele erreichen, das Austragen von Konflikten zwi schen Freunden und Verbündeten fördern sollte – vorausgesetzt, keiner vergisst, dass es sich letztlich um eine Kabbelei unter Liebenden handelt. In der Praxis bedeutet das, dass es zwar völlig legitim ist, bei einem Meeting die Weisheit von Wort und Tat eines Mitstreiters anzuzweifeln, nicht aber seine guten Absichten und die Aufrichtigkeit seines Engagements. Zugegeben, das kann sich oft als außerordentlich schwierig erweisen. Nicht selten mag man allen Grund zu der Vermutung haben, dass ein Gesprächspartner nicht ehrlich ist und seine Absichten alles andere als gutsind. Man mag sogar den Verdacht hegen, es könnte sich um einen verdeckten Ermittler handeln. Aber man könnte sich da eben auch irren. Und so, wie man davon ausgehen kann, dass Leute sich wie Kinder benehmen werden, wenn man sie wie Kinder behandelt, so werden sie bei Meetings unter Garantie unvernünftig, wenn man sie behandelt, als wären sie das von vornherein. So schwierig das auch im Einzelfall sein mag, es gilt, ein wachsames Auge auf derlei Verhalten zu haben und auch sofort offen darauf hinzuweisen. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist völlig in Ordnung, jemandem zu sagen, dass er sich idiotisch aufführt, wenn man das tatsächlich denkt; es ist aber nicht in Ordnung, ihm zu sagen, er versuche absichtlich die Bewegung zu sabotieren.
Falls sich übrigens jemand tatsächlich als Bulle – oder Nazi – erweist oder aktiv die Gruppe von der Durchsetzung ihrer Ziele abzuhalten versucht oder auch einfach nur völlig durchgeknallt ist, muss man einen Weg finden, ihn loszuwerden, obwohl das für gewöhnlich etwas ist, was man außerhalb der Meetings angehen sollte. Wir hatten in New York zum Beispiel das Problem, dass man selbst Leute, die erklärt hatten, das Meeting stören zu wollen, weiter teilnehmen ließ. Wir kamen aber schließlich dahinter, dass man mit solchen Leuten am besten so verfährt, dass man sie schlicht ignoriert: Was immer sie sagen, was immer sie tun, reagiert einfach nicht! Diese Methode wurde – eher spontan – entwickelt, als das »Menschenmikrofon« zum Einsatz kam: Wenn jemand etwas sagte, was andere anstößig fanden, wiederholten sie es einfach nicht, und wenn der Sprecher sein Verhalten nicht änderte, musste er feststellen, dass ihm niemand mehr zuhörte. 5
Dieses Buch ist nicht der richtige Ort für eine detaillierte Beschreibung des Konsensverfahrens, der verschiedenen gruppendynamischen Werkzeuge, die dafür entwickelt wurden (Eisbrecher, Rederunde, Popcorn, Fischglas etc. 6 ), sowie der verschiedenen Rollen. Es gibt dazu bereits detaillierte Ressourcen, die im Internet leicht zugänglich sind.
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