Inside Occupy
in einer kleinen Gruppe oder im Viertel oder auch einer kleinen Gemeinde, wo jeder jeden kennt, durchaus funktionieren mag, wie soll das in einer großen Gruppe gehen, in der nicht jeder jeden kennt? Schließlich gibt es dort keine Vertrauensbasis.
Wir sollten die Gemeinde, die Nachbarschaft nicht romantisieren. Verglichen mit den Bewohnern einer unpersönlichen Metropole mögen Menschen, die schon ein Leben lang zusammen etwa im selben Dorf leben, mit höherer Wahrscheinlichkeit bestimmte Perspektiven teilen, sie werden aber auch mit höherer Wahrscheinlichkeit erbitterte Feindschaften pflegen. Dass es dennoch zum Konsens kommt, belegt die Fähigkeit der Menschen, um des Gemeinwohls willen ihre Aversionen hintanzustellen.
Was Meetings mit lauter Fremden anbelangt: Wenn man eine Zufallsgruppe von der Straße holt, um sie gegen ihren Willen zu einer Versammlung zu nötigen, dann werden die Leute vermutlich kaum Berührungspunkte finden (außer sie planen gemeinsam die Flucht). Aber es geht nun mal niemand freiwillig zu einem Meeting, wenn er sich nicht etwas Bestimmtes davon verspricht. Mit anderen Worten: Man hat von vornherein ein gemeinsames Ziel. Wenn die Leute sich nicht ablenken lassen und nicht aus den Augen verlieren, weshalb sie gekommen sind, dann lassen sich ihre Differenzen im Allgemeinen auch überwinden.
Warum bezeichnest du die Rückzugsposition auf Mehrheitsentscheide von 66 Prozent, 75 Prozent oder gar 90 Prozent für größere Meetings als »modifizierten Konsens«? Handelt es sich nicht einfach um einen qualifizierten Mehrheitsentscheid? Warum bist du nicht einfach ehrlich und nennst es so?
Weil es in Wirklichkeit eben doch nicht dasselbe ist. Entscheidend ist das Syntheseverfahren, der Prozess, einen Vorschlag so lange umzuarbeiten, bis er demgrößtmöglichen Prozentsatz von Teilnehmern zusagt und der kleinstmögliche Prozentsatz dagegen ist. In größeren Gruppen wird man trotz allem immer wieder jemanden finden, der sein Veto einlegt, und es wird fundamentale Differenzen darüber geben, ob dieses Veto ehrlicher Ausdruck der Grundprinzipien dieser Gruppe ist oder nicht. In diesem Fall bleibt einem immer noch die Option einer Abstimmung. Würde man von vornherein abstimmen, hätte man eine ganz andere Dynamik.
Was soll man machen, wenn Leute das System missbrauchen?
Wenn Leute dabei sind, die ständig stören, dann sollte es eine Möglichkeit geben, sie zum Gehen aufzufordern. Falls sie nicht gehen und sie beim besten Willen nicht zu erreichen sind, dann ist es wahrscheinlich am besten, sie konsequent zu ignorieren.
Erstickt das Bestehen auf Konsens nicht Kreativität und Individualität? Fördert es nicht eine gewisse fade Konformität?
Wenn er nicht richtig gehandhabt wird, ja. Es gibt nichts, was sich nicht falsch machen ließe. Der Konsensprozess wird oft ausgesprochen schlecht gehandhabt. Aber das liegt größtenteils daran, dass er vielen von uns so unvertraut ist. Wir entwickeln hier praktisch eine demokratische Kultur aus dem Nichts. Wenn er richtig gehandhabt wird, gibt es keinen anderen Prozess, der Individualität und Kreativität derart förderlich ist, weil Konsens auf dem Prinzip basiert, dass man nicht mal versuchen sollte, andere zu seinem Standpunkt zu bekehren, und dass unsere Differenzen eine gemeinsame, von allen zu respektierende Ressource darstellen.
Ist es vernünftig, von jemandem zu erwarten, ständig zu 14-Stunden-Meetings zu gehen?
Nein, eine solche Erwartung ist absolut unvernünftig. Selbstverständlich sollte man niemanden zwingen – auch nicht durch moralischen Druck –, an Meetings teilzunehmen, an denen er nicht teilnehmen will. Aber andererseits wollen wir eben auch keine Aufspaltung in eine führende »Klasse«, die Zeit genug für lange Meetings hat, und eine zweite »Klasse« von Mitläufern ohne Möglichkeit, bei Schlüsselfragen mitzureden. In traditionellen Gesellschaften, die seit Jahrhunderten nach dem Konsensprinzip funktionieren, bestand die übliche Lösung darin, die Meetings unterhaltsam zu gestalten: Man brachte Humor, Musik, Lyrik ein, damit die Leute tatsächlich ihren Spaß daran hatten, den feinen rhetorischen Spielen und dem sie begleitenden Drama beizuwohnen. Aber freilich waren das Gesellschaften, deren Angehörige viel Zeit (und keine Fernseher oder soziale Medien zur Ablenkung) hatten. In einem zeitgenössischen städtischen Kontext bestehtdie Lösung einfach darin, nach der ersten Zeit der Begeisterung, in der jeder
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