Inside Polizei
merkte, wie die Angst aus ihrer Magengrube emporkroch und Besitz von ihrem Körper nahm. Ihr Mund trocknete aus. Die Zunge klebte fest. Sie fühlte sich überfordert. Sie hatte Angst! Ihr musste das passieren, ausgerechnet ihr. Eine Schlägerei, nachts im Dunkeln, bis zu 30 Beteiligte, im schlimmsten Viertel der Stadt – und das alles ausgerechnet mit Paul, dem größten Chauvi der Dienststelle. Karin steigerte sich in Vorstellungen hinein, wie Paul später in der Dienststelle schlecht über sie reden würde.
»Na ja, ist nicht ganz so schnell aus dem Auto gekommen. Hat ja auch ein paar Kilo mehr zu tragen. Bis die Kollegin aus dem Streifenwagen geklettert ist, hatte ich den Russen schon festgenommen.«
Paul würde bestimmt nicht mal so viel Anstand besitzen und erst hinter ihrem Rücken lästern, sondern gewiss beim Dienstabschlussbier die Geschichte vor der gesamten Schicht ausbreiten.
Der Streifenwagen bog mit quietschenden Reifen in die Müllerstraße ein. Hier, zwischen zwei Wohnblocks, tobte die Schlägerei. Trotz der Dunkelheit waren die Umrisse einer größeren Menschenmenge, die sich in Bewegung befand, auszumachen. Karin erschien die Menge deutlich zahlreicher als die gemeldeten 30 Personen. Ihre Nerven flatterten. Paul blieb die Angst seiner Kollegin nicht verborgen, es widerstrebte ihm aber zutiefst, seiner Kollegin jetzt womöglich auch noch gut zureden zu müssen. Sie hatte schließlich diesen Beruf gewählt und erhielt das gleiche Geld wie er, also sollte sie auch die gleiche Arbeit verrichten. Wenn sie die anfallenden Aufgaben nicht meisterte oder sich überfordert fühlte, dann musste sie sich eben versetzen lassen oder den Beruf wechseln. So einfach und nachvollziehbar funktionierte Pauls Polizeilogik.
Im Aussteigen drückte er den Statusmelder im Cockpit von drei auf vier. Die Leitstelle wusste nun Bescheid. Sie waren am Einsatzort eingetroffen.
Paul ließ das Scheinwerfer- und Blaulicht des Streifenwagens an, um bessere Sicht zu haben und keine freie Hand mit einer Taschenlampe zu beladen. Er wollte beide Hände frei haben, um auf alle Eventualitäten angemessen reagieren zu können – eine kluge Entscheidung.
Während er einen Schritt auf die Menge zuging, überprüfte er mit automatisierten Bewegungen seine Ausrüstung, ohne die ihn feindselig anstarrende Menge dabei aus den Augen zu lassen. Pistole, Schlagstock und Pfefferspray, alles war da. Er schätzte die Menge auf knapp 35 Personen. Nur vereinzelt nahm er Frauen wahr. Die Kerle waren seiner Einschätzung nach im Schnitt zwischen 20 und 30 Jahren alt. Offensichtlich bestand die Gruppe hauptsächlich aus Russlanddeutschen und einigen Türken. Sie hatten einen Kreis um zwei sich prügelnde Russen gebildet. Genauer gesagt, um einen Russen, der einen anderen zusammenschlug. Der Unterlegene blutete stark aus mehreren Kopfwunden, seine Nase bestand aus einem blutigen Knäuel, und er vermochte sich nur noch mit größter Anstrengung auf den Beinen zu halten. Die Schlägerei war längst entschieden und eigentlich vorbei, aber Igor – so feuerte die Menge den einen Mann an – hörte nicht auf zu schlagen. Als die Blicke von Igor und Paul sich kreuzten, ließ dies Paul in einem Anflug von Furcht erschaudern. Trotz der Dunkelheit sah er, dass seine Augen vollkommen kalt waren, skrupel- und mitleidslos. Igor würde nicht von allein aufhören zu prügeln, da war Paul sich nun sicher.
Er drehte sich zu Karin um, doch die stand fünf Meter hinter ihm, noch im Bereich des Streifenwagens. Sie wirkte wie festgefroren, regungslos. Paul durchdachte in Sekundenschnelle die möglichen Optionen. Einfach zu warten, bis doch noch Verstärkung eintraf, konnte er nicht riskieren. Der Unterlegene hatte schon jetzt zahlreiche stark blutende Kopfwunden und war auch nicht mehr dazu in der Lage, sich zu verteidigen. Igors harte Faustschläge rammten sich ungebremst in sein Gesicht. Igor schlug weiter auf ihn ein und starrte dabei Paul triumphierend und herausfordernd in die Augen. Er würde nicht aufhören.
Paul drehte sich erneut zu Karin um und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung aufzuschließen, um ihm den Rücken zu decken und ihn unterstützen zu können. Dann zog er langsam sein Pfefferspray aus dem Gürtel, ließ den linken Arm mit dem Spray aber am Körper herabhängen. Im Gehen hob er beschwichtigend seinen rechten Arm und überwand so die restlichen drei Meter bis zum Menschenkreis. Nur widerwillig machten die Zuschauer Platz, ihre feindseligen
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