Inside WikiLeaks
Auftauchen hatten wir nicht gerechnet: Lisa*. Einen Meter zwanzig groß. Ein ungefähr acht Jahre altes Kind.
Wir sollten an einem Ende des Tischkreises Platz nehmen, während das braungelockte Mädchen uns gegenübersaß. Sie kritzelte mit einem Wachsmalstift auf weißen Blättern herum, halbwegs vertieft in ihre Aufgabe.
Man erklärte uns, das sei die Lisa*, die Tochter der Mitarbeiterin von Annette Niederfranke, und der Papa von der Lisa*, der sei heute auf Geschäftsreise und deshalb hätte die Lisa* nach der Schule zu ihrer Mama ins Büro gehen müssen. Und weil keiner sonst im Ministerium sich um die Lisa* kümmern könne, müsse sie bei diesem Gespräch über Kinderpornographie mit am Tisch sitzen.
»Das sollte doch kein Problem sein, oder?«, sagte von der Leyen und lächelte. Die Lisa*, als hätten wir diesbezüglich Sorgen geäußert, sei ja ganz friedlich und male nur lustige, bunte Bilder. Und, weil sie ja nun einmal dabeisitze, sollten wir bloß ja nicht das »K-Wort« verwenden. Man muss dieses »schreckliche Wort« ja nicht verwenden, sagte die Ministerin und wiederholte gleich noch einmal: »dieses schreckliche, schreckliche Wort«. Dabei guckte sie sehr betrübt. »Wir wissen ja alle, worum es hier geht.« Sie nickte noch einmal bedeutungsvoll in die Runde und das Gespräch konnte beginnen.
Wir blieben etwa zwei Stunden. Und die ganze Zeit über redete Ursula von der Leyen konsequent vom »K-Wort«, während die junge Mitarbeiterin der Abteilungsleiterin ganz unverblümt das Wort »Kinderpornographie« in den Mund nahm. War ja auch nur Lisas* Mutter. Das Ganze hätte Loriot kaum besser in Szene setzen können. Schließlich hieß es, es sei ja nun schon spät und die Lisa* müsse ins Bett. Deshalb sei der Termin jetzt beendet.
»Danke, hat uns gefreut, finden Sie alleine raus?«
Der Ton war während des ganzen Gesprächs sehr ruhig und gefasst. Von der Leyen demonstrierte mit jedem Wort und jeder Geste, wie gut gelaunt und nett sie war. Und wir hatten ja »die Lisa*« nicht verschrecken wollen. Es konnte niemand mal auf den Tisch hauen und sagen: »Sorry, aber gegen diese ganzen Pädophilen bringt doch dieser Bullshit, den ihr da vorhabt, überhaupt nichts!«
Welche kluge Pressestrategie das auch immer gewesen sein sollte – wir fühlten uns moralisch erpresst und ärgerten uns im Nachhinein, dass wir das Gespräch nicht sofort abgebrochen hatten. Zumindest verstanden wir danach ein bisschen besser, was Ursula von der Leyen antrieb. Sie erklärte uns, wie schlimm es für sie sei, wenn sie auf internationalen Konferenzen danach gefragt werde, warum Deutschland denn nicht ausreichend gegen Kinderpornographie vorginge.
Das war ihr Punkt. Okay. Mir kam es so vor, als wolle sie etwas machen, um zu demonstrieren, dass sie etwas machte. Was genau das war, schien dabei zweitrangig.
Nichtsdestotrotz war der Widerstand gegen das Netzsperren-Gesetz eine der politisch erfolgreichsten Aktionen meiner WL -Zeit. Es zeigte sich, wie schnell politischer Druck aufgebaut werden konnte. Wir hatten die Fakten, Franziska war die Aktivistin, vier Wochen später saßen wir mit der zuständigen Ministerin Ursula von der Leyen am Tisch.
Von den zwei möglichen Arten des politischen Engagements war mir dieser Weg der liebste: Man kann im Nachhinein kritisieren, wie bei Toll Collect oder dem deutschen Pharmaunternehmen, dass etwas schiefgelaufen war. Oder man kann den laufenden Prozess beeinflussen. Wir haben dabei gelernt, dass man eine gewisse Wahrnehmungsschwelle in den Medien überwinden musste, um etwas zu bewegen. Und das funktionierte leider am besten, wenn man ein Problem personalisierte, ihm ein Gesicht und eine individuelle Note gab.
Auf der HAR 2009 versuchten wir dann, den politischen Schwung, den wir in Deutschland verspürt hatten, auf ein größeres Forum zu übertragen. Unser Ziel war, eine politische Bewegung ins Leben zu rufen, die sich gemeinsam gegen Internet-Zensurmaßnahmen in der ganzen Welt zur Wehr setzt.
HAR ist die Abkürzung für Hacking at Random und so etwas wie das Woodstock für Hacker – ein riesiges Camp, das alle vier Jahre an unterschiedlichen Orten in den Niederlanden stattfindet. Die HAR ist ein guter Ort, um mit Leuten in Kontakt zu kommen und neue Themen anzustoßen. Für Julian und mich waren hier drei Vorträge eingeplant, unter anderem ein Panel zum Thema Zensur.
Meine Freundin, einer unserer beiden Techniker und ich fuhren schon eine knappe Woche, bevor das Camp am
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