Inside WikiLeaks
kenne zwei Universitätsprofessoren, die Kandidaten für den Nobelpreis nominieren könnten. Er würde die fragen, ob sie nicht WL für die Nominierungsliste vorschlagen wollten. Das war ungefähr so eine Qualität von Geschichte wie die vom Hund der Tante des Bekannten vom Nachbarn des Bruders. Natürlich standen wir nicht wirklich kurz davor, in die Fußstapfen von Martin Luther King, Mutter Teresa und Barack Obama zu treten.
Ich habe mich von Berlin aus um die Einladungen, den Raum und den Live-Stream für die Pressekonferenz zum Collateral-Murder -Video in Washington gekümmert. Wenn es darauf ankam, funktionierten wir als Team immer noch gut. Oder umgekehrt gesagt: Drei Tage vor dem Termin war in Washington so gut wie nichts vernünftig organisiert. Hätte ich das nicht gemacht, Julian hätte mit den Journalisten im Flur des National Press Club reden können, oder vor der Haustür. Wenn überhaupt jemand von dem Termin erfahren hätte.
Anke und ich beschlossen zu heiraten, und Julian war der Erste, der davon erfuhr. Das war im März 2010. Julian und ich mochten zwar gerade in einer schwierigen Phase sein, aber er war noch immer einer der wichtigsten Menschen für mich. Als wir uns für einen Termin entschieden hatten, sagte ich ihm, wie sehr ich mich freuen würde, wenn er käme. Er antwortete nicht darauf. Wir hatten damals über die Geldstreitigkeiten und die Frage nach der künftigen Ausrichtung von WL bereits ziemlich große Konflikte, es waren ein paar harte Worte im Chat gefallen. Ich habe das Thema danach nie wieder angesprochen. Ich wollte mir nicht die Blöße geben, mir von ihm eine Absage einzuhandeln. Tatsächlich hätte ich mir nichts mehr gewünscht, als Julian dabeizuhaben.
Kurz vor der Hochzeit veranstaltete er ein riesiges Theater, warum ich ihn nicht eingeladen hätte. Ich hatte ihn als Allerersten eingeladen!
»Ich habe nie eine schriftliche Einladung bekommen«, beklagte er sich.
»Wo zur Hölle hätte ich die hinschicken sollen«, fragte ich zurück. Abgesehen davon hatten wir überhaupt keine Einladungskarten drucken lassen.
Am 5. April ging das Collateral-Murder -Video online. Es wurde allein auf YouTube über zehn Millionen Mal abgerufen. Es zeigte aus dem Blickwinkel der Bordkanone eines Militär-Hubschraubers, wie amerikanische Soldaten auf irakische Zivilisten schossen. Dabei wurden auch zwei Reporter von Reuters getötet. Dieses Video war unser endgültiger Durchbruch. Danach kannte so gut wie jeder unsere Website.
Die Nachrichtenagentur Reuters hatte jahrelang vergeblich versucht, das Video von den Amerikanern zu bekommen. Die Soldaten schossen auch auf die Zivilisten, die den beiden Journalisten und anderen Opfern von einem vorbeifahrenden Kleinbus aus zu Hilfe geeilt waren. Ihre zynischen Kommentare dabei sorgten weltweit für Empörung – und für ein realistischeres Bild von einem vermeintlich sauberen Krieg.
Der Titel »Collateral Murder« mag aus literarischer Sicht eine gute Schöpfung gewesen sein. Allerdings mussten wir uns im Nachhinein viel Kritik anhören. Wir hätten unsere neutrale Position verlassen. Weil wir ein eigenes Video aus dem Rohmaterial geschnitten und mit Untertiteln zum Wortlaut und zum Funkverkehr unterlegt hätten, seien wir selbst zu Manipulatoren der öffentlichen Meinung geworden. Vor allem der Titel des Videos und das Orwell-Zitat daneben – »Political language is designed to make lies sound truthful and murder respectable, and to give the appearance of solidity to pure wind« 10 – waren Stein des Anstoßes. Tatsächlich waren das genau die Fragen, über die wir immerzu diskutiert haben: Wie weit mussten wir in der Bearbeitung des Materials gehen, um seine Wirkung zu gewährleisten? Waren diese Vorwürfe ein akzeptabler Preis dafür, mit einem Leak so viel Aufmerksamkeit zu erzielen? Was war die Aufgabe von Journalisten, und welche Rolle spielten wir?
Wir hatten die Website mit dem bearbeiteten Video ganz bewusst ein bisschen von WL weggerückt, um zu verdeutlichen, dass es kein Originalmaterial war. Wir schufen mit collateralmurder.com eine eigene Domain. Als Rohmaterial hätten die Filmsequenzen weitaus weniger Wirksamkeit entwickelt, so viel steht fest.
Aus meiner Sicht war das dennoch der falsche Weg.
Wir experimentierten permanent mit unserer Rolle, machten dabei auch Fehler und lernten daraus. Solange man offen mit Fehlern umgeht, ist das in Ordnung, denke ich.
* Tipp- und sonstige Fehler stammen aus dem Original.
Die
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