Inspector Alan Banks 02 Eine respektable Leiche
ihre Ferien bei uns verbrachten. Ich ging oft stundenlang spazieren, mal allein, mal mit Harold oder mit Penny.»
«Penny?» unterbrach ihn Banks. «Sprechen Sie von Penny Cartwright?»
«Ja, genau. Wir waren viel zusammen, bis ich dann nach London ging.»
«Erzählen Sie weiter.»
«Wir gingen auch aus miteinander, ganz selbstverständlich und in aller Unschuld. Sie war damals sechzehn, und wir kannten uns von Kindesbeinen an. Eine Zeitlang hat sie sogar bei uns gewohnt, nach dem Tod ihrer Mutter.»
«Wie alt war sie da?»
«Oh, ungefähr zehn oder elf. Es war eine echte Tragödie, das Ganze. Mrs. Cartwright ertrank bei einer Springflut, einfach schrecklich, und Pennys Vater bekam einen Nervenzusammenbruch, so daß wir sie eine Weile bei uns aufnahmen, bis er sich wieder erholt hatte. Insofern schien es uns ganz natürlich, daß wir später... nun ja, wir waren dann schon ein bißchen älter, Sie verstehen... Wie dem auch sei - Harold war jedenfalls begeistert von der Gegend und äußerst kenntnisreich hinsichtlich ihrer Geschichte. Er fühlte sich sofort hingezogen zu diesem Tal und wußte bald mehr darüber als jemand wie ich, der sein ganzes Leben hier verbracht hatte. Das war typisch für ihn, und ich war natürlich entsprechend beeindruckt, aber da ich vorhatte, Englisch zu studieren, war ich ganz auf Literatur fixiert und zitierte ständig Wordsworth und solches Zeug... Ich vermute, Sie wissen bereits, daß er unser Haus kaufte, nachdem Mutter den Pensionsbetrieb nicht mehr allein halten konnte?»
Banks nickte.
«Nun ja», fuhr Ramsden fort, «sie kamen also jedes Jahr, Harry und Emma, gehörten sozusagen zur Familie und haben uns in der Zeit nach Vaters Tod sehr geholfen. Für Harry hatte das auch sein Gutes, denn seine Arbeit an der Universität war zu abstrakt, zu theoretisch. Er veröffentlichte ein Buch mit dem Titel Grundbegriffe der Industriearchäologie, hatte aber eigentlich nur eins im Sinn: diese Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Obwohl ihm die Pflichten an der Universität dazu nicht genügend Zeit ließen, hatte er fest vor, seinen Lehrauftrag wieder wahrzunehmen, wollte jedoch vorher noch ein wenig echte Pionierarbeit leisten. Und nachdem er geerbt hatte, war das alles endlich realisierbar.
Ich bin nach meinem Examen zuerst zu Fisher & Faulkner nach London gegangen, bis die Zweigstelle hier im Norden gebaut wurde und man mir diesen Posten anbot. Ich hatte mich nie im Süden heimisch gefühlt und war froh, mir eines Tages hier im Norden eine Existenz aufbauen zu können. Wir gaben also Harrys zweites Buch heraus, und so entwickelte sich eine sehr angenehme berufliche Zusammenarbeit zwischen Harry und mir. Unser Verlag ist auf wissenschaftliche Publikationen spezialisiert, wie Sie sehen.» Er deutete auf die vollgestopften Regale, und Banks stellte fest, daß bei den meisten Buchtiteln Begriffe wie «Prinzipien» und «Studien» vorkamen. «Wir verlegen überwiegend literaturwissenschaftliche und historisch-landeskundliche Abhandlungen», fuhr Ramsden fort. «Harrys drittes Buch war eine Sammlung einschlägiger Essays, und seither haben wir an einer umfassenden historischen Darstellung der hiesigen Industriearchäologie von den Zeiten der Römer bis zur Gegenwart gearbeitet. Gelegentlich hat Harry auch Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, aber diese letzte Arbeit war eigentlich sein Hauptwerk und wurde von der Fachwelt ungeduldig erwartet.»
«Was versteht man überhaupt unter Industriearchäologie?» erkundigte sich Banks. «Ich habe den Begriff in letzter Zeit ziemlich häufig gehört, aber leider nur eine recht vage Vorstellung davon.»
«Damit geht es Ihnen vermutlich nicht schlechter als den meisten Fachleuten», erwiderte Ramsden. «Einstweilen handelt es sich dabei noch um eine recht junge Disziplin. Ursprünglich faßte man unter diesem Begriff die wissenschaftliche Erkundung und Beschreibung der Maschinen und Arbeitsmethoden aus der Zeit der industriellen Revolution zusammen; aber dann erweiterte man ihn mehr und mehr um andere Technikperioden - wie beispielsweise die Bleigewinnung in den Minen der römischen Zeit. Vielleicht könnte man sagen, daß sich die Industriearchäologie mit der Erforschung und Beschreibung von industriellen Artefakten und Prozessen beschäftigt, wobei man allerdings noch endlos darüber diskutieren könnte, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Erschwerend kommt
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