Inspector Alan Banks 03 Ein unvermeidlicher Mord
leiseste Ahnung hatte, dass die Demo so schlimm werden würde, und dass niemand irgendetwas dagegen tun konnte. Eine Menge Leute waren dran beteiligt, Zoe, und wenn jeder heute Morgen dieses I Ching gemacht hätte, dann hätte jeder eine andere Antwort erhalten. Das ist nichts als Scharlatanerie, wenn du mich fragst.«
»Setz dich hin«, sagte Mara. »Trink ein Glas Wein. Hast du gesehen, was mit den anderen passiert ist?«
»Ich bin nicht sicher.« Zoe setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich und nahm Pauls Glas. »Ich glaube, Rick wurde verhaftet. Ich habe gesehen, wie er am Rande der Menge mit ein paar Polizisten kämpfte.«
»Und Seth?«
»Ich weiß es nicht. Ich konnte nichts sehen.« Zoe lächelte traurig. »Die meisten Leute sind größer als ich. Ich habe nur Schultern und Nacken gesehen. Weil ich so klein bin, konnte ich mich auch davonmachen. Und wegen des Regens. Ein Bulle packte meine Kapuze, aber sie war so nass, dass seine Hand abrutschte. Mein Sternzeichen ist Fisch, ich bin ein glitschiger Fisch.« Sie hielt inne und nippte an dem Barsac. »Was werden sie wohl mit denen machen, die sie verhaftet haben, Mara?«
Mara zuckte mit den Achseln. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine Anzeige kriegen und dann gehen können. So läuft das normalerweise. Dann entscheidet das Gericht, zu welcher Geldstrafe sie verurteilt werden oder ob sie ins Gefängnis müssen. Meistens müssen sie nur eine Geldstrafe bezahlen oder werden auf Kaution freigelassen.«
Mara wünschte, so zuversichtlich zu sein, wie sie klang. Ihre Sorge lag nicht in der Botschaft begründet, die Zoe aus dem I Ching gezogen hatte, doch hatten die Worte des Orakels sie irgendwie bestärkt und ihrer Unruhe eine tiefere Glaubwürdigkeit gegeben: »Bis zum Ende zu gehen bringt Unglück. Es bringt einen dazu, den großen Mann zu sehen.« Wer war der große Mann?
»Sollten wir nicht etwas unternehmen?«, meinte Paul.
»Was denn?«
»Zum Polizeirevier zurückfahren und herausfinden, was passiert ist. Versuchen, die beiden da rauszuholen.«
Mara schüttelte den Kopf. »Wenn wir das tun, dann werden wir noch eingesperrt, wegen Behinderung der Justiz oder so was.«
»Ich fühle mich einfach nur so verdammt machtlos, so nutzlos, wenn ich nicht in der Lage bin, irgendetwas zu tun.« Paul ballte die Fäuste, und Mara konnte die Worte lesen, die krumm und schief genau unter seine Fingerknöchel tätowiert waren. Im Gegensatz zu der geläufigen Kombination, LOVE auf der einen Hand und HATE auf der anderen, stand bei ihm auf beiden Händen HATE. Der Anblick der ungeschickt tätowierten Großbuchstaben erinnerte Mara daran, wie hart und brutal Pauls Vergangenheit gewesen war und wie sehr er sich entwickelt hatte, seit sie ihn zu Beginn des letzten Winters auf dem Weg zur Kunstgewerbemesse in Wensleydale schlafend im Freien aufgelesen hatten.
»Wenn wir ein Telefon hätten, könnten wir wenigstens im Krankenhaus anrufen«, sagte Zoe. »Vielleicht sollte einer von uns nach Relton laufen und von dort anrufen.«
»Ich werde gehen«, sagte Mara. »Ihr beide habt heute Abend schon genug durchgemacht. Außerdem wird mir die Bewegung gut tun.«
Bevor einer der anderen anbieten konnte, an ihrer statt zu gehen, stand sie auf. Nach Relton, einem Dorf hoch oben am südlichen Hang von Swainsdale, war es kaum mehr als einen Kilometer, und der Spaziergang würde angenehm sein. Mara schaute aus dem Fenster. Es nieselte wieder leicht. Sie nahm ihr gelbes Fahrradcape und den dazu passenden Regenhut aus dem Schrank und öffnete die Tür. Als sie losging, war Paul auf dem Weg zum Kühlschrank, um sich ein zweites Bier zu holen, und Zoe widmete sich ihren Tarotkarten.
Zoe beunruhigte Mara manchmal. Nicht, dass sie keine gute Mutter war, aber sie schien zu leichtfertig zu sein. Sicherlich hatte sie nach Luna gefragt, aber sie hatte kein Bedürfnis, nach ihr zu schauen. Stattdessen hatte sie sich sofort ihren okkulten Hilfsmitteln zugewandt. Mara liebte beide Kinder abgöttisch: Die vierjährige Luna und den fünfjährigen Julian. Selbst Paul, der gerade dem Teenageralter entwachsen war, erschien ihr manchmal wie ein Sohn. Sie wusste, dass sie gerade deshalb eine solche Zuneigung zu ihnen verspürte, weil sie keine eigenen Kinder hatte. Viele ihrer alten Schulfreundinnen hatten wahrscheinlich schon Kinder in Pauls Alter. Welche Ironie, dachte sie, als sie auf den Pfad zuging - eine unfruchtbare
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