Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
dass sie bei ihrem Besuch lediglich die Oberfläche der Dinge berührt hatte. Darunter lagen so viel Verbitterung, Zorn und Schmerz, so viele widersprüchliche Gefühle, dass eine mehrjährige Psychoanalyse nötig wäre, um sie ans Licht zu bringen.
Eines war jedoch offensichtlich: Welche Gründe der Familienkonflikt auch hatte, welche Gründe Caroline auch gehabt hatte, davonzulaufen - Gary Hartley besaß auf jeden Fall ein sehr gutes Mordmotiv. Seine Schwester hatte sein Leben zerstört und er gab ihr anscheinend auch die Schuld am Tod seiner Mutter. Wäre er ein anderer Mensch gewesen, wäre er anders mit seiner Last umgegangen, doch da er schwach war und sich ausgenutzt fühlte, brodelte das Blut in seinen Adern. Und wie Susan gerade miterlebt hatte, waren nicht mehr als ein paar Drinks nötig, um es zum Überkochen zu bringen.
Es wäre sehr interessant zu wissen, was Gary Hartley am vergangenen Abend zwischen sieben und acht Uhr getan hatte. Wie er ihr erzählt hatte, schlief der alte Mann die meiste Zeit. Für Gary wäre es also ein Leichtes gewesen, sich unbemerkt für eine Weile hinauszuschleichen. Sie hatte nicht gefragt, ob er ein Alibi hätte, und das war ein Fehler gewesen. Aber, sagte sie zu sich selbst, während sie einen Schluck Brandy trank und ihre Hände am Feuer wärmte, bevor du jetzt gleich wieder paranoid wirst, Susan, solltest du diesen Besuch einfach als Vorbereitung betrachten. Am besten wäre es, Gary Hartley noch einmal in Begleitung aufzusuchen. In Begleitung von jemandem wie Banks.
Während sie ihren Kopf in den Nacken legte und das Glas austrank, bemerkte sie die bunte Weihnachtsdekoration an der Decke und die Karten über dem steinernen Kamin. Das war noch so etwas, was ihr vom Haus der Hartleys in Erinnerung geblieben war. Zu der Kälte und den allgegenwärtigen Verfallserscheinungen hatte es in dem gesamten riesigen Haus nicht ein einziges Anzeichen gegeben, das auf die Feiertage hindeutete. Kein Weihnachtsbaum, keine Karte, keine Tannenzweige. Darin, so erkannte sie bitter, glich das Haus nur allzu sehr ihrer eigenen Wohnung. Sie schauderte und ging hinaus zu ihrem Wagen.
* II
Als Banks vorsichtig den Hügel hinunter nach Redburn fuhr, näherte sich seine Kassette mit Bartoks drittem Streichquartett gerade ihrem Ende. Das Gefälle war nicht ganz so steil wie bei Staithes, wo man den Wagen auf dem Gipfel stehen lassen und zu Fuß weitergehen musste, aber es war gefährlich genug. Zum Glück häufte sich der Schnee nur auf der mit Heidekraut überwucherten Strecke durch das North York Moor und hatte die Küste verschont.
Die enge Straße schlängelte sich parallel zum Bachlauf hinab zum Meer, und erst als er die letzte Kurve nahm, sah Banks das Wasser, eine wogende graue Masse, die gegen den Deich schlug und eine silbrige Gischt auf die schmale Promenade schwappen ließ. Redburn war ein kleiner Ort und bestand hauptsächlich aus einer einzigen, zum Meer hinabführenden Hauptstraße, von der nur ein paar Trampelpfade abzweigten, an denen versteckt und halb in den Berghang vergraben Cottages lagen, alle geschützt von der halbmondförmigen Bucht. Im Sommer erblühte hier durch die Vielfalt der Pastellfarben bestimmt eine malerische Landschaft, doch bei diesem Wetter schienen die Häuser hier fehl am Platze zu sein, so als wäre ein Stück der Riviera ausgegraben und in ein raueres Klima verlegt worden.
Am Ortseingang bog Banks nach links, fuhr bis zum Ende der Straße und parkte vor dem Lobster Inn. Da, wo die Straße endete, führte ein schmaler Pfad den Hang hinauf - der einzige Zugang zu zwei oder drei abgelegenen Häusern, die ungefähr auf halber Höhe am Meer lagen. Ein idealer Ort für Künstler.
Die Kälte nahm ihm den Atem, die feuchte Luft schien wie mit Nadeln zu stechen, doch schließlich erreichte Banks sein Ziel: das weiße Cottage mit dem roten Schindeldach. Wie auch das übrige Dorf musste es mit einem Garten voller Blumen im Sommer hübsch aussehen, aber unter dem trüben, grauen Himmel, in den der Rauch aus dem roten Schornstein aufstieg, nahm es sich trostlos aus. Banks klopfte an die Tür. Irgendwo heulte der Wind und schlug einen losen Fensterladen zu. Er musste an Jim Hatchley denken und fragte sich, wie ihm wohl nur wenige Kilometer entfernt von hier das Leben an der Küste gefiel.
Die Frau, die auf sein Klopfen hin an die Tür kam, machte genauso ein verblüfftes Gesicht, wie er es erwartet hatte. Es konnte nicht viele
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