Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
gegangen?«
Faith zuckte mit den Achseln. »Es gab keinen besonderen Grund. Manchmal sind wir eben einfach nicht gegangen. Jeder wollte nach Hause. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es war kurz vor Weihnachten. Man hatte Einkäufe zu erledigen, musste die Familie besuchen.«
Banks glaubte ihr nicht. Beim Sprechen spielte sie mit ihrer Perlenkette und wandte die Augen ab. Außerdem sprach sie so, als würde ihr niemand zuhören.
»Ist bei der Probe etwas passiert, Faith?«, fragte er. »Gab es Krach zwischen Caroline und Teresa?«
Faith rutschte umher. Sie sah ihn wieder an. Ihr Blick war ausdruckslos. Eine Parfümwolke schwebte herüber.
»Noch einen Drink?«
»Nein. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Lassen Sie mich doch in Ruhe. Nichts ist passiert.«
Banks setzte sein Glas auf den St.-Ives-Untersetzer ab und stand auf.
Faith kratzte die Innenseite ihres Ellbogens. »Wollen Sie gehen?«, fragte sie. Ganz plötzlich machte sie den Eindruck eines verängstigten Mädchens, dessen Eltern gerade das Licht ausschalten wollten.
»Ja. Herzlichen Dank für die Drinks. Sie waren eine große Hilfe.«
Sie griff nach seinem Arm. »Nichts ist passiert. Wirklich. Glauben Sie mir. Wir haben einfach die Probe beendet und sind alle nach Hause gegangen. Glauben Sie mir nicht?«
Banks ging Richtung Tür. Faith lief neben ihm her, ohne ihn loszulassen. »Sie müssen ihn schnell fassen«, sagte sie.
»Ihn?«
»Wer auch immer Caroline ermordet hat. War es eine Frau? Das könnte wohl sein. Aber sie müssen den Täter fassen.«
»Keine Sorge. Das werden wir. Mit oder ohne Ihre Hilfe. Warum sind Sie so nervös?«
Faith ließ seinen Arm los. »Wir anderen sind in Gefahr, oder nicht? Das ist doch logisch.«
»Was meinen Sie damit?«
»Carolines Mörder könnte es auf die ganze Gruppe abgesehen haben - ein Serienmörder vielleicht.«
»Ein Psychopath? Möglich, aber ich glaube es nicht. Sie haben zu viele Bücher gelesen, Faith.«
»Sie glauben also wirklich nicht, dass wir anderen in Gefahr schweben?«
»Nein. Aber Sie sollten Ihre Tür trotzdem immer gut verschließen. Und immer erst schauen, wer da ist.« Schon halb aus der Tür, blieb er noch einmal stehen.
»Was ist?«, fragte Faith.
»Einige von Ihnen könnten tatsächlich in Gefahr sein«, fügte er langsam hinzu. »Und zwar falls Sie mehr über den Mord wissen, als Sie sagen, und der Mörder weiß, dass Sie etwas wissen oder einen dementsprechenden Verdacht hat.«
Faith schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, als ich Ihnen gesagt habe.«
»Dann haben Sie ja auch nichts zu befürchten, oder?«
Banks lächelte und verschwand. Er wollte Teresas Version von der letzten Nacht hören, aber das hatte noch Zeit. Es war bald zehn Uhr, er war müde und morgen früh wollte er nach London fahren. Wenn er nach seiner Rückkehr immer noch mit ihr reden musste, konnte er es dann tun.
Als er über die dünne Eisschicht ging und den Rest des Stückes von Milhaud anhörte, rief er sich wieder Faith Greens Gesichtsausdruck an der Tür ins Gedächtnis. Sie hatte behauptet, nichts zu wissen, aber unverkennbar besorgt geschaut, als er angedeutet hatte, dass sie möglicherweise in Gefahr war. So wie er sie kannte, konnte das natürlich auch wieder nur Theater gewesen sein, aber vielleicht, dachte er, wäre es gar keine schlechte Idee, wenn Richmond und Susan Gay die Mimenschar im Auge behielten, während er in London weilte.
* NEUN
* I
Erst als der Intercity den Hauptbahnhof von Leeds verließ, schien sich Veronica Shildon zu entspannen.
Banks hatte sie am frühen Morgen im Bahnhof von Eastvale getroffen; zusammen waren sie zitternd und Dunstwolken ausatmend auf dem Bahnsteig hin- und hergelaufen, bis die überhitzte, alte Diesellok hereinknatterte und sie den Zug bestiegen. Nur unterbrochen von gelegentlichem Smalltalk betrachteten beide schweigend die in Nebelschleier gehüllte Landschaft, die an ihnen vorbeizog. Südlich von Ripon wurden die Täler und Moore im Westen von hügeligem Ackerland abgelöst, wo sich durch die Schneedecke Flecken gefrorener brauner Erde und Gruppen kahler Bäume zeigten. Und schließlich gelangten sie in die Vorstädte und Industriegebiete der Stadt. Auf dem kalten, tristen Bahnsteig in Leeds hatten sie eine halbstündige Wartezeit über sich ergehen lassen, den Dieselgeruch der warmen Lokomotiven eingeatmet und
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