Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
kindliche Begeisterung für das Leben. Das war ansteckend. Ich hatte mich seit Jahren halb tot gefühlt. Ich hatte mich völlig von der Welt abgekapselt. So etwas ist möglich, wissen Sie. So viele Menschen nehmen das Leben, das ihnen auferlegt wird, einfach hin. Abgesehen von gelegentlichen Tagträumereien können sie sich nicht mal vorstellen, dass es anders oder besser sein könnte. Selbst das halbe Leben, das ich jetzt habe, ist dem, das ich vor Caroline führte, vorzuziehen. Es gibt keinen Weg zurück. Ich habe wie ein Zombie gelebt und auf alles verzichtet, was zählt, bis sie in mein Leben trat. Sie zeigte mir, wie gut es tat, überhaupt wieder zu fühlen. Durch sie fühlte ich mich zum ersten Mal wieder lebendig. Sie hat mein Interesse an bestimmten Dingen geweckt, weil sie selbst sich so leidenschaftlich mit ihnen beschäftigte.«
»Womit zum Beispiel?«
»Ach, Theater, Bücher, Filme. So viele wundervolle Dinge. Und Musik. Claude hat immer versucht, mich für Musik zu interessieren, und es hat ihn wirklich frustriert, dass sie mir anscheinend nicht so wichtig war wie ihm und dass ich ihr nicht so viel Beachtung geschenkt habe wie er. Die Oper habe ich am meisten geliebt, aber dafür hatte er wiederum nie viel Zeit. In den meisten Spielzeiten bin ich nach Leeds gefahren, um allein in die Oper zu gehen. Ich habe gerne Musik gehört und ich höre immer noch gerne klassische Musik, aber ich habe mir eigentlich nie Platten gekauft. Die Musik, die wir gemeinsam hörten, war mir irgendwie immer zu steif, vielleicht weil Claude jede populäre Musik hasste, alles, was nicht Klassik war. Aber Caroline hat mir Jazz und Blues und Folk näher gebracht. Diese Musik war einfach viel lebendiger. Wir sind sogar in Clubs gegangen, um Konzerte von Folkgruppen mitzuerleben. Das habe ich vorher nie gemacht. Niemals.«
»Aber Ihr Mann ist doch selbst Musiker. Er liebt Musik. Hat er Ihnen nichts bedeutet? Warum hat seine Begeisterung Sie nicht angesteckt?«
Veronica senkte den Kopf und kratzte mit ihrem Daumennagel über die Tischoberfläche.
»Keine Ahnung. Irgendwie fühlte ich mich von seiner Existenz einfach total unterdrückt. Anders kann ich es nicht ausdrücken. So als spielte es keine Rolle, was ich dachte oder fühlte oder tat, weil sich unser ganzes Leben nur um ihn drehte. Ich war in allem von ihm abhängig, selbst in meinem Musik- oder Literaturgeschmack. In seiner Gegenwart bekam ich keine Luft mehr. Alles, was ich tat, wäre neben seiner Arbeit unbedeutend gewesen. Schließlich war er der große Claude Ivers, mein Lehrer und Meister. Eine abfällige Bemerkung von ihm zu einer Sache, die mir etwas bedeutete, brachte mich zum Schweigen oder zum Weinen. Deshalb lernte ich, keine eigenen Wichtigkeiten mehr zu haben. Ich war die Ehefrau eines großen Mannes und kein eigenständiger Mensch.«
Sie setzte sich aufrecht, ihre Stirn legte sich in Falten. »Wie kann ich es Ihnen erklären? Claude war nicht grausam, er hat das alles nicht absichtlich getan. Er ist einfach so und ich bin so - oder vielmehr, ich war es. Ich habe immer noch meine Probleme, wohl mehr denn je, seit Caroline fort ist, aber wenn ich zurückschaue, kann ich kaum glauben, dass ich noch der gleiche Mensch bin, der ich damals war. Caroline hat ein Wunder vollbracht - sie hat mich mit Leben erfüllt. Und ich weiß, dass ich irgendwie weitermachen kann, egal wie schwer es auch sein wird, und zwar nur wegen ihr, nur weil sie zu meinem Leben gehörte, wenn auch nur für eine so kurze Zeit.« Sie hielt inne und schaute aus dem Fenster. An der Verkrampftheit ihres Kiefers, an der Art, wie die kleinen Muskeln unter ihren Wangenknochen angespannt waren, konnte Banks die Intensität ihrer Empfindungen ablesen.
»Verstehen Sie?«, fuhr sie fort und sah Banks mit ihren klaren, graugrünen Augen an. »Er war kein schlechter Ehemann. Ein nachlässiger vielleicht. Und auf jeden Fall war er in den letzten Jahren viel zu sehr in seiner Arbeit aufgegangen, um mich überhaupt zu bemerken. Und ich starb allmählich, trocknete von innen aus. Wenn mir nicht Caroline über den Weg gelaufen wäre, weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre.«
»Aber Sie hatten Ihre Therapie schon begonnen, bevor Sie Caroline kennen gelernt haben«, sagte Banks. »Was hat Sie dazu veranlasst?«
»Verzweiflung, pure Verzweiflung. In einer Frauenzeitschrift hatte ich einen Artikel über Jungianische Therapie gelesen. Das klang interessant, schien aber
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