Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel

wirklich geheim halten. Ive Jelacic hat behauptet, er hätte nie gesehen, dass sie jemanden getroffen hat, aber er ist ein notorischer Lügner. Andererseits haben auch Sie mir gerade erzählt, dass Sie nie jemanden in ihrer Nähe gesehen haben.«
      »Das heißt aber nicht, dass nie jemand da gewesen ist«, wandte Rebecca ein. »Die Bäume stehen hier ziemlich dicht. Und es war eine neblige Nacht. Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr helfen.«
      Banks schaute sich um. Rebecca hatte Recht. Nach Süden hin konnte man gerade so die Kirche durch die Bäume erkennen, nach Norden hin jedoch, zwischen dem Inchcliffe-Mausoleum und der Kendal Road, sah es anders aus. In dieser Richtung waren die Eiben dicker und das Unterholz dichter. Ein idealer Ort für ein geheimes Treffen. Und wenn er bei seiner Rückkehr an den Tatort eine neue Erkenntnis gewonnen hatte, dann war es die, dass Deborah den Kiesweg von sich aus genommen haben könnte und dass sie dies schon früher getan hatte.
      Er schaute hoch zum Inchcliffe-Mausoleum. Es konnte an seinem Blickwinkel gelegen haben oder vielleicht an einem Lichtreflex, aber er hätte schwören können, dass der marmorne Engel mit den angeschlagenen Flügeln lächelte.
     
     

* FÜNFZEHN
     
    * I
     
    »Nehmen wir nur mal für einen Moment an, dass Pierce es nicht getan hat«, sagte Banks. »Das vereinfacht die Sache.«
      Es war der erste Freitag im Juni, die Strahlen der späten Morgensonne durchfluteten den Marktplatz. Banks saß in Gristhorpes Büro, wo die beiden versuchten, ganz neu an den Mord an Deborah Harrison heranzugehen.
      Gristhorpe, ein wuchtiger Mann mit einem pockennarbigen Gesicht und buschigen Augenbrauen, saß seitlich hinter seinem riesigen Teakholzschreibtisch, ein Bein ausgestreckt und auf eine Fußbank gebettet. Er behauptete, sein gebrochenes Bein wäre völlig geheilt, hin und wieder zwickte es ihn jedoch noch. Angesichts der Tatsache, dass es sich um dasselbe Bein handelte, in welches er vor nicht allzu langer Zeit einen Schuss abbekommen hatte, überraschte es Banks nicht.
      Banks trank einen Schluck Kaffee. »Großzügig gesehen, würde ich sagen, wir haben vielleicht fünf oder sechs Verdächtige. Wenn Deborah keinen Liebhaber hatte, von dem wir nichts wissen - und ich glaube, das ist nicht der Fall -, dann könnte der Schlüssel zu allem in ihrem Geheimnis liegen. Und wenn Deborah etwas über jemanden wusste, könnte sie leicht die Wichtigkeit ihres Wissens falsch eingeschätzt und die Verzweiflung dieser Person unterschätzt haben. Erwachsene können einige ziemlich üble Geheimnisse haben. Der Prozess gegen Pierce hat all unsere Zeit und Energie darauf gelenkt, zu beweisen, dass der Mörder sie nicht kannte, dass sie ein zufälliges Opfer war oder zu einem Opfer geworden ist, weil sie das Pech hatte, Pierce' Exfreundin Michelle Chappel zu ähneln.«
      »Was wird jetzt mit dem Prozess?«
      »Vor ungefähr einer Stunde habe ich mit Stafford Oakes gesprochen«, antwortete Banks, »und er ist sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil Berufung einlegen wird, und zwar auf der Grundlage, dass das analoge Beweismaterial nicht zugelassen worden ist. Wenn sie einen Richter finden, der es zulässt, könnte ein neuer Prozess katastrophale Folgen für Pierce haben - ob er nun der Täter ist oder nicht.«
      Gristhorpe kratzte sein Kinn. »Wie du weißt, Alan«, sagte er, »kann ich ganz unbefangen an die Sache herangehen, weil ich an der ursprünglichen Ermittlung nicht mitgewirkt habe. Ich möchte nur gleich einmal sagen, dass du in meinen Augen gute Arbeit geleistet hast. Du solltest dir wegen des Ausgangs der Sache keine Vorwürfe machen. Vielleicht stellt sich wieder heraus, dass Pierce es nicht gewesen ist. Aber ich finde auch, dass wir diesen Aspekt im Moment außer Acht lassen sollten. Nach allem, was ich bisher gelesen habe, hatte sich Barry Stott anscheinend besonders auf Pierce versteift. Irgendeine Ahnung, warum?«
      »Es war seine Spur«, erklärte Banks. »Zumindest hat er das geglaubt. Im Grunde wäre er nie auf Pierce gekommen, wenn Jim Hatchley nicht unbedingt ins Nag's Head gewollt hätte, um ein Bier zu trinken. Aber Barry ist ehrgeizig. Und hartnäckig. Und wir dürfen nicht vergessen, dass sich auch Jimmy Riddle total auf Pierce festgelegt hatte.«
      »Er ist ein Freund der Familie«, sagte Gristhorpe. »Ich kann mir vorstellen, dass er nur eine schnelle Lösung wollte, egal