Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
Natursteinmauern. Sie bemerkte nicht, wie sich das Tal im Westen mit seinen allmählich steiler werdenden Hängen teilweise im Nebel und im Nieselregen verlor, so dass es aussah wie ein chinesisches Aquarell.
Rebecca kaute nur an ihren Nägeln und wünschte, dass dieses festsitzende, zerreißende und aufwühlende Gefühl in ihr verschwinden würde. Auf der ganzen Fahrt war sie kurz davor, loszuheulen, und sie wusste, wenn sie erst einmal begann, würde sie nie wieder aufhören können. Sie holte immer wieder tief Luft und hielt kurz den Atem an, um sich zu beruhigen. Das half.
Als der Bus nach Eastvale hineinrumpelte, hatte sie sich wieder ein wenig gefasst, fühlte sich aber immer noch so niedergeschmettert, als wäre ihre gesamte Welt plötzlich zerstört worden. Sie nahm an, dass es einfach irgendwann hatte passieren müssen - sie hatte mit einer Lüge gelebt, sie hatte in gestundeter Zeit gelebt oder welches Klischee auch immer ihr noch einfallen mochte, um die letzten Monate ihres Lebens zu beschreiben.
Wenn sie nun darauf zurückschaute, hatte ihr Leben nur noch aus einer Folge von Katern bestanden; ob sie nun vom Trinken oder ihrer Untreue herrührten, schien keinen Unterschied zu machen. Alle Freuden, die sie im Trinken oder im Sex gefunden hatte, waren so vergänglich und so schnell von den Schmerzen verdrängt worden, von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, schlechtem Gewissen und Schamgefühl, dass sie es nicht länger wert waren. Aber war es nun zu spät? Hatte sie Daniel verloren?
Der Bus war fast da.
Sie drückte auf die Klingel, und als sie darauf wartete, dass der Bus anhielt, hatte sie das Gefühl, der Fahrer und die anderen Fahrgäste würden sie komisch anschauen. Was dachten sie von ihr? Roch sie nach Sex? Bevor sie Patrick in Richmond verlassen hatte, hatte sie sich nicht gewaschen, sie hatte sich einfach so schnell wie möglich angezogen und war verschwunden. Und unter ihrem Mantel hatte sie ihre zerrissene Bluse an. Aber was konnte sie dagegen tun? Wenn Daniel zu Hause war, würde er es bemerken. Doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Er wusste es sowieso. Trotzdem konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass er wusste, dass sie an diesem Nachmittag mit Patrick zusammen gewesen war.
Als sich der Bus der Haltestelle näherte, sah sie die Traube der Reporter vor der Kirchenmauer und wusste, warum die Fahrgäste sie anschauten. Sie wollte in St. Mary's aussteigen, dem Tatort des schrecklichsten Verbrechens, das Eastvale seit Jahrzehnten erlebt hatte.
Der Bus bremste ruckartig, und Rebecca wäre fast nach vorn getaumelt, hätte sie sich nicht an einer Metallstange festgehalten. Als sich die Türen öffneten, sprang sie hinaus, stürzte an dem Polizisten vor dem Tor vorbei und lief dann über den Friedhof zum Pfarrhaus.
Nachdem sie das Haus erreicht hatte, stieß sie die Tür auf und rief nach Daniel. Stille. Gott sei Dank war er nicht zu Hause. Sie zog rasch ihre zerrissene Bluse aus, lief hinauf ins Badezimmer und wusch den Sexgeruch von ihrem Körper. Danach würde sie Daniel gegenübertreten können. Sie würde es tun müssen.
* V
Ive Jelacic wohnte in der sechsten Etage eines zehnstöckigen Mietshauses in Burmantofts unweit der York Road. Im grauen Nieselregen des Novembers erinnerte Banks das Gewirr der hohen Mietskasernen an ein Foto von Arbeiterquartieren in einer sibirischen Stadt, das er einmal in einer Zeitung gesehen hatte.
»Reizend, nicht wahr?«, sagte Detective Inspector Ken Blackstone, der draußen auf sie wartete. Er schaute auf seine Uhr. »Die Wohnungsbaugesellschaft musste auf allen Dächern rutschige Kuppeln anbringen, damit die Jugendlichen nicht mehr von oben auf die Balkone klettern und durch die Fenster einbrechen.«
Blackstones wie üblich tadellose Garderobe machte Banks bewusst, dass sein eigener Hemdkragen offen war und seine Krawatte ein bisschen schief hing. Mit seiner Drahtgestellbrille, der Gesichtsfarbe eines Bücherwurms und dem dünner werdenden rotblonden, über den Ohren etwas gelockten Haar sah Blackstone aus wie ein Gelehrter und tatsächlich war er so etwas wie ein Experte für Kunst und Kunstraub. Allerdings wurde seine besondere Fachkenntnis in Leeds nicht gerade häufig gebraucht. Niemand hatte in letzter Zeit einen Atkinson Grimshaws geklaut, und nur ein Dummkopf würde versuchen, eine Skulptur von Henry Moore zu fälschen.
»Jelacics Alibi ist bestätigt worden«, erzählte
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