Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
dachte, sein Vater sei wegen seiner Entscheidung von ihm enttäuscht, so wie Banks' eigener Vater ihm immer sein Missfallen über Banks' Berufswahl kundtat, selbst heute noch, wenn sie sich trafen.
Banks ging zurück an seinen Schreibtisch. Zum dritten Mal seit Aufnahme des Falles breitete er die Gegenstände, die man bei Gloria Shackletons Gebeinen gefunden hatte, vor sich aus. Nicht viel als Erinnerung an ein Leben oder Bodensatz eines Todes: ein Medaillon, dessen frühere Herzform zerdrückt und verbogen war, ein angelaufener Ehering, die Verschlüsse eines Büsten- oder Strumpfhalters, ein Paar kleiner, verformter Lederschühchen, die ihn an die Schuhe erinnerte, die er einmal im Pfarrhaus der Brontes gesehen hatte, einige Fetzen Verdunkelungsstoff und der mit Grünspan angelaufene Knopf von Adam Kelly. Superintendant Gristhorpe konnte ihm vielleicht etwas über den Knopf sagen, dachte er. Gristhorpe war ein kleiner Experte in Militärgeschichte, spezialisiert auf den Zweiten Weltkrieg.
Banks griff nach seiner Jacke und wollte gerade das Büro verlassen, als das Telefon klingelte.
»Hallo, Alan.«
Eine Frauenstimme. »Ja?«
»Ich bin's. Jenny - Jenny Füller. Kennst du mich nicht mehr?«
»Jenny! Das ist schon lange her. Wo bist du?«
»Zu Hause. Bin gestern erst zurückgekommen. Hör mal ...«
»Früher als geplant, oder nicht?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Schön, dass du anrufst. Ich brauche einen Rat.«
»Wenn es was Persönliches ist, bin ich die Letzte, die dir helfen kann, glaub mir.«
»Und beruflich?«
»Das bekomme ich vielleicht noch hin. Ich rufe nur an, weil, ich weiß, ich soll dich nicht bei der Arbeit stören und so, aber ich bin in der Stadt und dachte, dass du vielleicht Zeit zum Mittagessen hast.«
Banks hatte vorgehabt, nach Lyndgarth zu fahren und Gristhorpe zu besuchen, der seinen Jahresurlaub zu Hause verbrachte, aber das konnte er auf später verschieben. »Um halb eins im Queen's Arms?«
»Klasse. Bis dann.«
Lächelnd legte Banks den Hörer auf. Er hatte Jenny seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen, seitdem sie sich entschlossen hatte, sich für ein Jahr von der Universität York beurlauben zu lassen, um in Kalifornien zu unterrichten. Zu der Zeit hatten Sandra und er sich gerade getrennt. Er hatte mehrere Postkarten erhalten, auf denen sie sich erkundigte, wie es ihm ging, aber das war alles.
Jenny war eine von zwei Frauen, von denen seine Kollegen annahmen, dass er mit ihnen schlafen würde, nachdem Sandra ihn verlassen hatte. Vielleicht hätte er es tatsächlich getan, wenn Jenny da gewesen wäre. Aber Timing ist alles. Jenny verbrachte nun den Großteil ihrer Zeit in Kalifornien, der Grund dafür war ein Mann. Die andere Freundin von ihm, Pamela Jeffries, war, weil sie sich rastlos und eingeengt fühlte, ausgerechnet nach Australien geflogen und spielte dort in einem Orchester, so dass er sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Auch von ihr bekam er hin und wieder eine Karte aus so exotischen Orten wie Sydney, Melbourne, Adelaide und Perth. Das machte ihm Lust aufs Reisen.
Jetzt würde er in ungefähr einer Stunde mit Jenny Mittag essen. Gerade noch genug Zeit, um seine Fragen zu Matthew Shackleton vorzubereiten und drüben bei Waterstone's ein paar Bücher von Vivian Elmsley zu kaufen.
***
Aus irgendeinem Grund stand ich gerade auf der Straße und begutachtete die Schaufensterdekoration (die ziemlich mager war), als ich nach links guckte und ihn über die Feenbrücke kommen sah. Kurz davor hatte ich den Zug eintreffen hören, daher nahm ich an, dass er vom Bahnhof kam.
Der Wind heulte um die Schornsteine, und Wolken, so schwarz wie das Herz eines Nazis, verunzierten den Himmel. Es war niemand sonst auf der Straße. Deshalb bemerkte ich ihn. Und weil er einen überdimensionierten, schlotternden braunen Anzug trug, aber kein Gepäck.
Er war groß, aber ging mit krummem Rücken und einem kräftigen Stock, als habe er es im Kreuz. Er bewegte sich langsam, fast wie eine Erscheinung im Traum, als wüsste er, wohin er gehe, aber habe keine Eile. Er war so dünn, dass er beinahe unterernährt wirkte. Als er näher kam, merkte ich, dass er nicht so alt war, wie ich anfangs vermutet hatte, obwohl sein glattes, glanzloses Haar hier und dort mit grauen oder weißen Strähnen durchzogen war.
Der Wind riss mir an Haar und Kleidern und fuhr mir bis ins Mark, aber
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