Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
auch. Ich zog den Kragen bis ans Kinn hoch und spürte, wie meine nackten Hände, die die Griffe der Einkaufstasche umfasst hielten, froren. Dummerweise hatte ich meine Handschuhe vergessen.
»Ich wollte nur zur Toilette gehen«, fuhr Gloria fort, »er kam mir hinterher. Mark. Ich weiß, dass ich ein bisschen zu viel getrunken hatte. Ich wollte es gar nicht, aber ich muss ihm wohl irgendwie Hoffnung gemacht haben. Er sagte, ich hätte ihn gereizt, hätte ihm den ganzen Abend schöne Augen gemacht. Es ist einfach nur etwas ausgeartet, das ist alles.«
»Was meinst du damit?« Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen in der Hoffnung, dass mir dadurch warm bleiben würde. Gloria schien die Kälte gar nicht zu spüren. Die Landmädchen bekamen ja auch warme grüne Mäntel.
»Am Anfang des Abends«, erklärte sie, »zog er mich unter den Mistelzweig. Alle machten das. Ich hab mir überhaupt nichts dabei gedacht ... Gwen?« Sie kaute auf ihrer Unterlippe.
»Was?«
»Ach, ich weiß nicht. Männer. Manchmal ist es einfach ... ich weiß nicht, was es ist, man will nur nett zu ihnen sein, aber sie verstehen es falsch.«
»Falsch?«
»Ja. Ich wollte nur freundlich sein. So wie ich es zu allen bin. Ich hab mich nicht so verhalten, dass er glauben konnte, ich wäre eins von diesen Mädchen. Manche Männer haben einen falschen Eindruck von mir. Ich weiß nicht, warum. Es kommt mir vor, als könnten sie sich nicht zusammenreißen. Sie sind so stark. Und manchmal ist es wirklich einfacher nachzugeben, auch wenn du's nicht glaubst.«
»Und das hast du gemacht? Nachgegeben?«
»Nein. Ich wehrte mich. Ich versuchte, Matt oder jemand anderen zu rufen, damit man mir half, aber Mark hielt mir den Mund zu. Früher hätte ich vielleicht nachgegeben. Weiß nicht. Aber jetzt habe ich Matt. Ich liebe ihn, Gwen, ich will keinen Wirbel verursachen, so dass Matt wütend wird und Ärger anfängt. Ich hasse Gewalt. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du nicht vorbeigekommen wärst. Ich hätte mich nicht mehr lange wehren können. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich glaub schon«, erwiderte ich. Inzwischen hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass mir noch wärmer würde. Glücklicherweise war ich schon so taub, dass ich die Kälte nicht mehr spürte.
»Können wir es nicht einfach vergessen?«, bat Gloria.
Ich nickte. »Das ist wahrscheinlich das Beste.«
Sie umarmte mich. »Gut. Und wir bleiben Freundinnen, Gwen?«
»Ja, sicher.«
***
Als Banks gegangen war, absolvierte Annie ihre üblichen zwanzig Minuten Meditation, gefolgt von ein paar Yogaübungen. Anschließend duschte sie. Beim Abtrocknen kitzelte die Haut, und sie merkte, wie gut sie sich fühlte. Die vergangene Nacht war es wert gewesen. Und der Morgen. Die Sache mit der Enthaltsamkeit war doch nicht so toll wie gedacht.
Sie mussten auf jeden Fall noch öfter üben. Banks war ein wenig zurückhaltend, ein bisschen konservativ. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, dachte Annie, nach zwanzig oder mehr Jahren mit derselben Frau. Sie dachte zurück an den Sex mit Rob, wie eingespielt sie aufeinander gewesen waren. Selbst als sie ein oder zwei Jahre lang getrennt waren, hatten sie, als es in Exeter weiterging, sofort ohne Probleme den Rhythmus wiedergefunden.
Wie konnten sich so viele in Banks geirrt haben, fragte sie sich. Tratsch verzerrt die Wahrheit, ja sicher, aber in so einem Ausmaß? Vielleicht war er eine nackte Leinwand, auf die die anderen ihre Phantasien projizierten. Sie hoffte jedenfalls, dass er nicht zu der Sorte gehörte, die sich moralisch verpflichtet fühlte, sich in eine Frau zu verlieben, nur weil sie mit ihr geschlafen hatten. Ehrlich gesagt, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie von dieser Beziehung erwartete, wenn es denn eine werden sollte. Sie wollte ihn öfter sehen, ja; sie wollte wieder mit ihm schlafen, ja; aber darüber hinaus war sie sich nicht sicher. Trotzdem, vielleicht wäre es ja ganz nett, wenn er sich ein wenig in sie verlieben würde. Nur ein ganz klein wenig.
Sie hoffte inbrünstig, dass er das Geschehene nicht um ihretwillen bereuen würde, dass er nicht das Gefühl bekäme, ihre Verletzlichkeit und ihren Schwips ausgenutzt zu haben, oder ähnlichen Männerblödsinn. Was die Karriere betraf, konnte er ja wohl nicht annehmen, dass sie mit ihm geschlafen hatte, weil er ihr Vorgesetzter war oder weil sie befördert werden
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