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Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer

Titel: Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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zeigten. Zu Beginn des Krieges waren die Schilder abmontiert worden, ebenso die Namen der Bahnhöfe, um den Feind im Falle einer Invasion zu verwirren. Dennoch erstaunte es mich, wo einige der Schilder gelandet waren.
      Insgesamt dauerte die Fahrt zehn Stunden, wovon wir die letzten ein oder zwei Stunden offenbar nur durch nicht enden wollende Londoner Vororte zockelten. Hier sah ich zum ersten Mal endlose Straßen ausgebombter Häuserreihen, zerknickte Laternenpfähle, abgebröckelten Putz, verdrehte Stahlträger und zerstörte Mauern. Im Schutt wuchsen Weidenröschen und Greiskraut, sie schoben sich durch die Risse im zerbombten Mauerwerk.
      Kinderbanden streiften durch die Straßen und spielten zwischen den Ruinen. Eine findige Gruppe hatte an einem Laternenpfahl, der sich wie der schiefe Turm von Pisa in einem bedenklichen Winkel neigte, ein Seil befestigt und schwang sich nun wie Tarzan, der Affenmensch, hin und her.
      Einige Häuser waren nur zur Hälfte zerstört, aufgerissen wie ein Querschnitt. Man konnte die Tapete erkennen, gerahmte Bilder und Fotografien an den Wänden, ein Bett hing halb an den gezackten Resten des Fußbodens fest. Hier und dort waren stark beschädigte Gegenstände oder Möbel auf die Straße gestellt worden: ein Kleiderschrank ohne Türen, ein zerbrochenes Sideboard, ein Kinderwagen mit « krummen Rädern. Ich fühlte mich wie ein Gaffer an einer Unglücksstätte, was ich ja wohl auch war, aber ich konnte einfach nicht wegsehen. Ich weiß nicht, ob ich zu dem Zeitpunkt die Ausmaße der Verwüstung wirklich erfasste, auch wenn ich Leeds nach dem Luftangriff gesehen hatte.
      Es schien, als sei an jedem Fleck, wo kein Grünzeug spross, ein Sperrballon zur Abschreckung tieffliegender feindlicher Flugzeuge aufgestellt worden. Die dicken silbernen Ballons funkelten in der Sonne. Sie wirkten wie Wale, die zu fliegen versuchten. Auf Rasenflächen gab es manchmal Flakgeschütze zu sehen, die wie stählerne Pfeile gen Himmel wiesen.
      Natürlich waren auch viele Häuser verschont geblieben, einige davon hatte man mit Sandsäcken umstellt, oft bis zu einer Höhe von drei Metern oder mehr. Auch fielen mir die unzähligen Plakate auf, die an jeder verfügbaren Bretterwand klebten; sie forderten uns auf, unser eigenes Gemüse anzubauen, Kohlen zu sparen, Kriegsanleihen zu kaufen, so oft wie möglich zu Fuß zu gehen und so weiter.
      Ich verlor mich so in all den Eindrücken, dass ich bis zur Ankunft in King's Cross gar nicht merkte, wie die Zeit verging. Da war es bereits nach zehn Uhr morgens und ich hatte einen Bärenhunger. Gloria wollte direkt nach Whitehall fahren, aber ich konnte sie überreden, erst etwas zu essen. Wir fanden ein Lyons, wo wir eine Scheibe dünnen Frühstückspeck und ein Ei bekamen.
      Nach dem Frühstück traten wir wieder auf die Straße, und ich konnte endlich richtig in mir aufnehmen, wo ich mich befand. Mein erster Eindruck war, ich sei ein ganz kleines, winziges, unbedeutendes Wesen inmitten einer gewaltigen, wuchernden Stadt. Von allen Seiten drängten Menschen auf mich zu, hohe Gebäude ragten über mir auf.
      Die ganze Gegend machte einen schäbigen, heruntergekommenen, besiegten Eindruck. Die Menschen sahen abgehärmt und blass aus, so wie man nach jahrelanger Lebensmittelrationierung, Bombardierung und Unsicherheit eben aussieht. Ich als Mädchen aus dem hohen Norden hätte ebensogut auf einem anderen Planeten gelandet sein können. Bisher war ich noch nie in einer größeren Stadt als Leeds gewesen und London hätte mich sicherlich auch in Friedenszeiten überwältigt.
      Es hatte angefangen zu nieseln, obwohl die Luft noch immer warm war, und die feuchten Sandsäcke gaben einen moschusartigen Geruch ab. Es wimmelten so viele Menschen herum, die meisten in Uniform, dass ich übernervös wurde und mich ein wenig schwindelig fühlte. Während mich Gloria zielstrebig zu einer Bushaltestelle führte, klammerte ich mich an ihren Arm. Oft lächelte uns jemand an oder grüßte uns im Vorbeigehen. Ich sah die ersten verwundeten Soldaten, traurig blickende Männer mit bandagierten Köpfen, fehlenden Gliedmaßen und Augenklappen, manche auf Krücken oder mit einem Arm in der Schlinge. Alle hatten Glück gehabt: Sie lebten noch.
      Gloria war in ihrem Element. Nach einer nur kurzen anfänglichen Orientierungslosigkeit schien etwas in ihr einzurasten, als ob die Stadt für sie auf einmal einen Sinn ergab, wovon bei mir nicht die Rede sein konnte.

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