Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
teuren Anwalt im Schlepptau. Man hatte ihr einen Pflichtverteidiger angeboten, aber sie sagte, sie bräuchte niemanden. Banks schaltete den Kasettenrekorder ein, machte die üblichen Angaben und begann mit dem Verhör. Annie saß neben ihm. Die Antworten auf die meisten seiner gestrigen Fragen - einschließlich der beiden Telefonate von Darrens Handy, nur eines davon mit Banks - lagen in einer Akte vor ihm auf dem Tisch, und was sich daraus ergab, gefiel ihm ganz und gar nicht.
»Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie hier sind, Ruth?«, fragte Banks zur Eröffnung.
Ruth starrte auf eine zerquetschte Fliege hoch oben an der gegenüberliegenden Wand.
»Wir haben ein bisschen gegraben.«
»Eigentlich nicht die richtige Jahreszeit dafür, oder?«, erwiderte Ruth.
»Ich mache keine Witze«, schnaubte Banks. »Also hören Sie auf damit, Ruth. Das passt nicht zu Ihnen.«
»Wenn Sie meinen.«
»Sie haben mir eine Menge Lügen aufgetischt.«
»Lügen? Mein ganzes Leben ist eine Lüge. Was erwarten Sie denn von mir?«
»Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden. Fangen wir mit dem Feuer an.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Womit?«
»Dass ich hier bin.«
»Wie schon gesagt, ich versuche, die Wahrheit herauszufinden.«
»Es gab ein Feuer. Ich bin aufgewacht, und mein Zimmer war voll Rauch. Ich musste aus dem Fenster springen. Ich hab mir ziemlich schlimm den Knöchel gebrochen. Ihnen dürfte aufgefallen sein, dass ich immer noch humpele.«
»Was können Sie uns sonst noch über das Feuer erzählen?«
»Was gibt's da zu erzählen? Es war ein Unfall. Ich konnte wochenlang nicht laufen.«
»Wie ist das Feuer entstanden?«
»Angeblich durch eine Zigarette. Meine kann es nicht gewesen sein. Ich hab sie ausgedrückt. Das weiß ich genau ...«
»Wessen Zigarette war es dann?«
Ruth zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Meine nicht.«
»Es muss Ihre Zigarette gewesen sein, Ruth. Ihre Eltern sind bei dem Feuer umgekommen, und Sie reden nur über Ihren gebrochenen Knöchel. Was stimmt an dem Bild nicht?«
»Sagen Sie's mir. Und sie waren nicht meine Eltern. Alle behaupten, ich sei die Glückliche gewesen, also muss es wohl stimmen.«
»Waren Sie glücklich?«
»>Bist du heut glücklich, Punk?< Entschuldigung. Noch ein schlechter Witz. Schieben Sie's auf den Mangel an Humor in meiner Kindheit und Jugend.«
»Wurde Ihnen Humor vorenthalten?«
»Der gehörte nicht mit zum Paket.«
»Welchem Paket?«
»Sie wissen schon. Dem, bei dem man nicht tanzen, singen, lachen, weinen, lieben und bumsen darf. Das Religionspaket. Manchmal glaube ich, sie mussten ein Kind adoptieren, weil sie es für eine Sünde hielten, ein Kind auf natürliche Weise zu produzieren.«
»Was empfanden Sie für Ihre Eltern?«
»Ich hab's Ihnen schon gesagt, sie waren nicht meine Eltern. Sie waren meine Adoptiveltern. Glauben Sie mir, das ist ein Unterschied. Wissen Sie, dass sie mir nie von der Adoption erzählt haben?«
»Wie haben Sie es erfahren?«
»Durch die Papiere.«
»Aber die sind bei dem Feuer doch bestimmt vernichtet worden?«
»Die lagen in einem Schließfach auf der Bank. Ich hab's erst herausgefunden, nachdem sie tot waren und ich das Fach öffnen musste. Da haben sie mich aufgehoben. In einem Schließfach.«
»Aber sie waren die Eltern, die Sie großgezogen haben.«
»O ja. Alle sagen, sie wären anständige, ehrliche, gottes-fürchtige Menschen gewesen. Das Salz der Erde.«
»Und was sagen Sie?«
»Sie waren dämliche Idioten, zu hirntot, um noch eigene Entscheidungen zu treffen. Sie hatten vor allem Angst, außer vor der Kirche. Vor ihren Körpern. Der Welt jenseits ihrer Straße. Ihrem Leben. All das haben sie auf mich übertragen. Und noch mehr. Sie haben mir das Leben vermiest, mich in der Schule zum Gespött gemacht. Ich hatte keine Freunde, konnte mit niemandem reden. Sie wollten nicht, dass ich mit anderen Kindern zusammen war. Sie sagten, Gott sei der einzige Freund, den man braucht. Welche Äußerungen erwarten Sie denn von mir?«
»Waren Sie froh, als sie starben?«
»Ja.« Ruths linke Hand schoss aus dem Ärmel hervor, und sie kratzte sich an der Nase. Ihre Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut.
»Was ist mit Ihrer leiblichen Mutter?«
»Ros? So nenne ich sie, wissen Sie. Es ist ein bisschen spät, sie >Mutter< zu nennen,
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