Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
das Revier und gingen über den Marktplatz, bogen dann in die schmale, kopfsteingepflasterte Castle Wynde, vorbei am kahlen Park, hinunter zum Flussufer. Es war ein frischer, kalter Wintertag, und ihr Atem blieb in der Luft stehen, während unter ihren Füßen die vereisten Pfützen knackten. Der Weg zum Fluss hinunter war steil, auf beiden Seiten gesäumt von kleinen Kalksteincottages, und das Kopfsteinpflaster war schlüpfrig. Banks spürte den eisigen Wind, der vom Fluss heraufblies. Genau das brauchte er, um den Geruch des Verhörraumes loszuwerden.
»Was hältst du von alldem?«, fragte Annie, als sie den halben Weg hinter sich hatten.
Banks wusste nicht, was er von Ruths Bombe halten sollte. Er wusste nicht mal, ob es wahr war; schließlich hatte Ruth schon vorher vielfach gelogen. Aber warum sollte sie in diesem Fall lügen? »Das wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet«, sagte er.
»Wie: Hat sonst noch jemand davon gewusst, und hat es etwas mit dem Mord an Emily zu tun?«
»Zum Beispiel.«
»Glaubst du, Ruth hat Emily umgebracht?«
»Wenn nicht, weiß sie, was passiert ist und wer es war. Sie ist daran beteiligt, dessen bin ich mir sicher.«
Sie hatten den Fluss erreicht und blieben eine Weile an der hüfthohen Steinmauer stehen, die am Ufer entlang verlief. Der Wasserfall rauschte und schäumte über die Stromschnellen, gewaltige, moosbedeckte, uralte Felsbrocken, die hier und da aus dem Wasser ragten: das Ergebnis einer geologischen Auffaltung vor Millionen von Jahren. Banks spürte die eisige Gischt auf Wangen und Haaren. Wenn die Kältewelle noch länger anhielt, würde sogar der Wasserfall gefrieren. Über ihnen erhob sich die dunkle Masse der Burgruine mit ihren Türmen vor dem bleigrauen Himmel; es war eine schwarzweiße Welt, oder wie die Welt auf einem Schwarzweißfoto mit all den subtilen Grautönen. Annie hängte sich bei Banks ein. Ein gutes Gefühl, das einzige gute Gefühl, das er an diesem Morgen gehabt hatte.
Sie gingen am Flussufer entlang, vorbei an den terrassenförmig angelegten Grünanlagen, nicht mehr als ein kleiner, mit Bäumen bestandener Park zu ihrer Linken. Es waren kaum Menschen unterwegs, nur ein junges Paar, das seinen Airedale ausführte, und ein alter Pensionär mit einer flachen Kappe auf seinem täglichen Spaziergang. Banks hatte oft überlegt, sich auch eine flache Kappe zu kaufen. Jetzt war er schon so lange in Yorkshire und besaß immer noch keine. Aber er trug nicht gern was auf dem Kopf, nicht mal im Winter.
Auf der anderen Seite des Flusses standen kahle Bäume. Dahinter konnte Banks die Umrisse der großen Häuser an der Dorfwiese ausmachen, hinter denen wiederum die berüchtigten East-Side-Mietskasernen lagen, die der Polizei von Eastvale das ganze Jahr über zu tun gaben.
In einem der großen Häuser wohnte Jenny Füller, eine Psychologin, mit der Banks bei mehreren Fällen zusammengearbeitet hatte. Sie war eine Freundin und auch jemand, mit der er fast eine Beziehung angefangen hätte. Jenny war ihm gegenüber höflich, aber kühl, seitdem er sie vor drei Monaten ohne eigenes Verschulden versetzt hatte. Aber es war noch mehr dran. Es war, als hätte Jenny sich und ihre Gefühle für ihn zu sehr offenbart und fühlte sich nun durch die angebliche Zurückweisung verletzt. Irgendwie hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen. Sie hatte sich damals gerade von einer unglücklichen Beziehung mit einem amerikanischen Professor erholt, wie Banks wusste, also war sie sowieso verletzlich gewesen. Er wünschte, er könnte etwas tun, um die Distanz zu überbrücken und die Freundschaft wieder anzufachen, die ihm über die Jahre wichtig geworden war.
Doch da war auch Annie. Banks war kein Experte, aber er wusste genug über Frauen, um zu erkennen, dass Annie es nicht gut finden würde, wenn er sich jetzt, wo er sich von seiner Ehe befreit fühlte, jemand anderem als ihr widmete.
»Sandra will sich scheiden lassen«, sagte er plötzlich zu Annie. Er spürte, wie sich ihr Arm anspannte, aber sie zog ihn nicht zurück. Das erste gute Zeichen. Von der Scheidung hatte er ihr neulich Nacht nicht erzählt, weil das zu den Dingen gehörte, die er nur schwer in Worte fassen konnte. Was auch jetzt noch galt, aber er wusste, dass er es versuchen musste, wenn die Beziehung mit Annie weitergehen sollte. Es würde sie entweder beruhigen oder abschrecken; das war das Risiko, das er eingehen musste.
»Das tut mir Leid«,
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