Inspector Alan Banks 13 Ein seltener Fall
Baumwurzeln. Der Baum selbst war verschwunden, nur die knorrigen Wurzeln ragten noch aus dem Boden wie Arme aus einem Grab. Andrew war mulmig zumute. Doch seine Neugier verdrängte die Angst, und er ruderte näher heran. Was waren schon Legenden und Mythen?
Als er nahe genug war, versuchte er, den Stoff aus den Wurzeln zu lösen. Das Material war schwerer, als Andrew gedacht hatte. Mit einem Ruck riss er es los, das Boot kippte, Andrew verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Er konnte gut schwimmen, aber der Gegenstand, den er wie eine Geliebte in den Armen hielt, ließ sein Blut gefrieren: Es war eine Leiche. Aus dem aschgrauen Gesicht starrten ihn tote Augen an.
Andrew ließ los, sein Mund war voll Galle. Er strampelte zum Schlauchboot zurück, suchte nach den Rudern und paddelte ans Ufer, wo er sich geräuschvoll übergab. Dann schlurfte er in glucksenden Stiefeln zurück zum Wagen und schickte Stoßgebete zum Himmel, sein Handy möge hier oben Empfang haben. Hatte es nicht. Fluchend warf er es neben sich und startete mit zitternden Händen das Auto. Auf dem Weg nach Helmthorpe schaute er ständig in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihn kein grässliches Monster aus den Tiefen des Sees verfolgte.
Banks war noch immer wütend, als er mit kreischenden Bremsen vor dem Haus seiner Eltern hielt, doch bevor er hineinging, atmete er mehrmals tief durch. Er wollte sich nichts anmerken lassen. Seine Eltern musste er damit nicht belasten, sie hatten genug Sorgen. Sein Vater saß vor dem Fernseher und schaute Pferderennen, seine Mutter schnitt in der Küche einen Kuchen.
Banks steckte den Kopf um die Ecke. »Ich fahr heute Nachmittag nach Hause«, sagte er. »Danke, dass ich hier schlafen konnte.«
»Hier ist immer ein Bett für dich frei«, entgegnete seine Mutter. »Das weißt du doch, mein Junge. Hast du alles erledigt?«
»Nicht ganz«, sagte Banks, »aber viel mehr kann ich nicht machen.«
»Du bist Polizist. Du musst doch irgendwie helfen können!«
Banks' Mutter sprach das Wort »Polizist« nicht ganz so verächtlich aus wie sein Vater, inzwischen lag nicht mehr so viel Abscheu darin, aber begeistert klang sie auch nicht. Deshalb hatte Banks sich gewundert, als Mrs. Marshall ihm erzählte, seine Mutter sei so stolz auf ihn. Seine Mutter hatte ihm immer zu verstehen gegeben, dass er sich ihrer Meinung nach unter Wert verkauft hatte, dass er in die Wirtschaft hätte gehen und sich zum Geschäftsführer einer großen internationalen Firma hocharbeiten sollen. Wie gut er seine Arbeit machte, wie oft er befördert wurde, schien ihr einerlei zu sein. Seine Mutter fand seinen Beruf würdelos, und neben den Leistungen seines Bruders Roy, dem Börsenmakler, wirkten Banks' Erfolge immer blass. Dabei hatte Banks schon lange vermutet, dass Roy in zwielichtige Geschäfte verwickelt war. Seiner Erfahrung nach kam das in der Finanzwelt häufig genug vor, aber derartige Verdächtigungen würde er seiner Mutter gegenüber niemals äußern, nicht einmal vor Roy selbst. Dennoch lebte Banks in der ständigen Angst, sein Bruder würde ihn irgendwann anrufen: »Alan, kannst du mir helfen? Ich stecke in der Klemme.«
»Das ist nicht mein Fall, Mum«, erklärte er. »Die Polizei hier ist gut. Sie tut ihr Bestes.«
»Isst du noch mit uns, bevor du fährst?«
»Klar. Weißt du, worauf ich Hunger hab?«
»Auf was?«
»Auf Fish and Chips von drüben«, sagte Banks. »Ich geh was holen. Ich lad euch ein.«
»Hm, dann nehm ich eine Fischfrikadelle«, überlegte seine Mutter. »Aber dein Dad hat nichts mehr von gegenüber geholt, seit der Chinese da drin ist.«
»Na los, Dad«, rief Banks ins Wohnzimmer. »Oder bleibst du bei deiner Diät?«
»Hör bloß auf mit Diät«, rief Arthur Banks zurück. »Ich nehme Fish and Chips. Aber pass auf, dass die nicht ihr ekliges Chop Suey oder diese süßsaure Soße drauftun.« Banks zwinkerte seiner Mutter zu und ging zum Imbiss.
Die Ladenzeile auf der anderen Seite der Hauptstraße lag hinter einem Asphaltstreifen mit Kundenparkplätzen. Beständig hatte sie sich verändert. Als Banks in die Siedlung gezogen war, hatte es einen Fish-and-Chips-Laden, einen Damenfrisör, einen Fleischer, einen Lebensmittelhändler und einen Waschsalon gegeben. Jetzt gab es eine Videothek, eine Pizzeria mit Lieferdienst und einen Inder namens Caesar's Taj Mahal, dazu einen Minimart und einen Frisör. Die einzigen Konstanten
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