Inspector Alan Banks 15 Eine seltsame Affäre
Sofort fielen Annie deshalb die Splitter am Schloss auf. Sie beugte sich vor und sah, dass sie frisch waren. Die Haustür war neu und noch nicht gestrichen.
Annie hatte die Schutzhandschuhe im Kofferraum vergessen, deshalb ließ sie die Hände in den Taschen und drückte die Tür vorsichtig mit dem Fuß auf. Innen herrschte großes Durcheinander, aber es war nur das Chaos der Handwerker. Wände waren wieder eingezogen, auch die Deckenbalken waren eingesetzt. Abgesehen von der Wand zwischen Wohnzimmer und Küche, war sogar alles schon wieder verputzt. Es war ein sonderbares Gefühl, hier zu stehen und kein Torffeuer, sondern Sägemehl und Metallspäne zu riechen, fand Annie. Die Treppe schien fertig zu sein, sie wirkte solide. Nach einem zögerlichen Tritt wagte Annie sich nach oben. Das einst vertraute Schlafzimmer war noch im Rohbau, an den Wänden waren Berechnungen und Bleistiftskizzen der Handwerker zu sehen. Das zweite Schlafzimmer war genauso leer.
Annie ging wieder nach unten und trat nach draußen. BeimWeggehen drehte sie sich noch einmal um. Es war jemand in das Cottage eingebrochen, und zwar vor kurzem. Annie ging davon aus, dass die Handwerker nach Feierabend am Freitag abgeschlossen hatten, würde das aber kontrollieren müssen. Es konnten natürlich Einbrecher gewesen sein, aber das schien ihr doch ein zu großer Zufall zu sein. Sie musste Stefan Nowak und die Spurensicherung holen, um festzustellen, ob es eine Verbindung zwischen Jennifer Clewes' Auto und Banks' Cottage gab.
Wenn es dieselbe Person gewesen war, die Jennifer Clewes getötet hatte, musste sie sich Banks' Adresse auf anderem Wege besorgt haben, denn Jennifer Clewes hatte den Zettel ja noch in der Gesäßtasche gehabt. Vielleicht hatte der Täter gewusst, wo Banks wohnte, und als er erkannte, wohin Jennifer Clewes fuhr, und sie sich auf einem abgeschiedenen, isolierten Straßenabschnitt befand, erschoss er sie. Dann war er weitergefahren zum Cottage. Um was zu tun? Um auch Banks zu töten? Es war auf jeden Fall klüger, einen nach dem anderen auszuschalten.
Aber Banks war nicht zu Hause gewesen; er wohnte ungefähr eine Viertelmeile entfernt in seiner Übergangs-Unterkunft. Hatte Banks eine Ahnung, was vor sich ging? War er deshalb so früh am Morgen aufgebrochen? Das war die große Frage, dachte Annie, als sie den Hang hoch zurück zu ihrem Auto lief. Wie viel wusste Banks, und wie sicher war er? Sie würde wohl erst dann eine Antwort auf diese Fragen bekommen, wenn sie den Mann aufgetrieben hatte.
Corinne wohnte in der ersten Etage eines vier Stockwerke hohen Gebäudes. Die schmale Seitenstraße war keine fünfzig Meter von der Earl's Court Road entfernt. Als Corinne Banks an der Tür begrüßte und hereinbat, fand er, dass sie nicht mehr wie das junge Mädchen aussah, das er bei seinen Eltern kennengelernt hatte. Zum einen hatte sie nun längeres Haar, das ihr bis fast auf die Schultern fiel, blond mit dunklem Ansatz. Zum anderen war der kleine Stecker in der Unterlippe fort. Er hatte einen kaum sichtbaren Makel in ihrer tadellosen Haut hinterlassen, fetzt sah sie eher wie dreißig denn wie zwanzig aus. Und sie wirkte selbstbeherrschter, reifer, als Banks sie in Erinnerung hatte.
»Kommen Sie mit nach hinten!«, forderte sie ihn auf. »Da ist das Büro.« Ein elektrischer Ventilator stand auf dem Tisch vor dem offenen Fenster und drehte sich langsam alle paar Sekunden um neunzig Grad, verquirlte die lauwarme Luft. Besser als nichts.
»Neuerdings kommt es mir vor, als würden alle zu Hause arbeiten«, bemerkte Banks und nahm in einem Sessel Platz. Corinne setzte sich ihm schräg gegenüber und schlug die Beine übereinander, so wie es Frauen oft taten. Er nahm an, dass sie in diesem Raum mit ihren Klienten sprach. Ein Wasserkrug mit Eiswürfeln stand auf dem Tisch zwischen ihnen, dazu zwei Gläser. Corinne beugte sich vor und schenkte zwei Glas ein, ließ dabei die Beine übereinandergeschlagen. Eindrucksvoll, staunte Banks. Er fand die Haltung schon zum normalen Sitzen unbequem. Aber Corinne bewegte sich mit einer tänzerischen Anmut und Eleganz, die von Pilates und Yoga kündete.
»Angeblich soll Tee bei heißem Wetter ja erfrischend sein«, sagte sie, »aber die Vorstellung, etwas Heißes zu trinken, spricht mich im Moment nicht besonders an.«
»Wasser ist in Ordnung«, sagte Banks. »Danke.«
Corinne trug ein schlichtes orangefarbenes T-Shirt, das in der Jeans steckte. Um den Hals
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