Inspector Alan Banks 15 Eine seltsame Affäre
war Roy um 15:57 Uhr am Freitagnachmittag noch der Meinung gewesen, am Mittwoch einen Termin bei seinem Frisör wahrnehmen zu können. In seinem ganzen Leben hatte Banks so etwas nicht gemacht. Er ging zu seinem Herrenfrisör und wartete wie alle anderen, bis er an der Reihe war. In der Zwischenzeit las er alte Zeitschriften.
Banks spülte den letzten Bissen Curry, das Tagesgericht, mit einem Glas Pride hinunter, zündete sich eine Zigarette an und sah sich um. Es war sonderbar, wieder in London zu sein. Seit er damals fortgezogen war, hatte er die Stadt oft besucht, meistens im Zusammenhang mit seinen Fällen, doch bei jedem Besuch hatte er sich mehr wie ein Fremder gefühlt, wie ein Tourist, obwohl er über fünfzehn Jahre in der Hauptstadt gelebt hatte.
Doch das war schon eine ganze Weile her, und die Welt änderte sich. Schäbige Viertel wurden zu begehrten Wohngegenden, und ehemals angesagte Ecken gingen den Bach runter. Dunkle Kaschemmen wurden zu Stammkneipen junger Trendsetter, feine Lokale hingegen waren heruntergekommen. Banks hatte keine Ahnung, was momentan angesagt war. London war eine sich ausdehnende Metropole, und selbst als Banks dort lebte, hatte er die Stadt nie über die Grenzen von seinem Wohnviertel Notting Hill und Kennington und dem West End, wo er arbeitete, hinaus gekannt. Seiner Ansicht nach war South Kensington eine ganz andere Stadt.
Er dachte an den verschwundenen Roy und überhörte die mal lauteren, mal leiseren Gespräche um sich herum. Später, im Haus, wollte er den Rest der Anruflisten durchgehen. Außerdem wollte er sich die CD anhören. In der Nähe waren viele Internet-Cafés, irgendwo würde er sich die CD ansehen und Dateien ausdrucken können. Andererseits: Die Lokale waren viel zu öffentlich; was auch immer er dort machte, würde Spuren hinterlassen. Banks hatte die Intimsphäre seines Bruders verletzt, aber mit gutem Grund, wie er fand. Allerdings bestand überhaupt kein Anlass, Unbekannte mit Roys Geheimnissen vertraut zu machen.
Banks wurde klar, dass er niemanden in London wusste, der einen Computer hatte. Die meisten, die er kannte, Verbrecher wie Bullen, waren entweder umgezogen, in Rente gegangen oder gestorben. Die einzige Ausnahme war Sandra, seine Exfrau, die nach der Trennung von ihm nach Camden Town gezogen war. Sandra hatte wahrscheinlich einen Computer. Aber die letzte Begegnung mit ihr war eine Katastrophe gewesen, und als es ihm schlecht ging, hatte sie sich nicht gerade rührend um ihn gekümmert. Ganz im Gegenteil: Sie hatte sich überhaupt nicht blicken lassen, sondern lediglich über Tracy Grüße ausgerichtet. Aber schließlich hatte sie einen neuen Mann, Sean, und ein kleines Baby, Sinead. Nein, Banks glaubte nicht, dass er Sandra in absehbarer Zukunft einen Besuch abstatten würde.
Derselbe Grund, der ihn vom Besuch eines Internet-Cafes abhielt, verhinderte auch, dass er mit dem, was er hatte, den offiziellen Weg ging: Die CD konnte belastendes Material enthalten. Wenn Roy etwas Anrüchiges im Schilde führte, würde Banks ihn nicht ausliefern. Nicht seinen eigenen Bruder. Vielleicht würde er ihn nach allen Regeln der Kunst zusammenscheißen und ihm die Leviten lesen, wenn er ihn fand, aber er würde nicht dazu beitragen, Roy ins Gefängnis zu bringen.
Es gab noch eine Möglichkeit, die Banks ausloten konnte, einen Menschen, der sich wahrscheinlich ebenso um Roys Ruf sorgte wie er selbst. Banks drückte die Zigarette aus und holte das Handy aus der Tasche. Er ging die Namensliste durch, bis er Corinne gefunden hatte. Das war der Name von Roys Verlobter, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er notierte sich die Nummer, steckte das Telefon zurück in die Tasche, trank aus und verließ das Lokal.
London war stickig und heiß. Nicht gerade der Ort, den er sich während einer Hitzewelle ausgesucht hätte. Die Menschen auf der Straße stöhnten, die Luft war gesättigt von Abgasen und Schlimmerem, es roch nach verdorbenem Fleisch und Gemüse.
Banks wollte nicht das Handy benutzen. Es konnte ja sein, dass Roy die für ihn hinterlassene Nachricht fand und sich meldete. Deshalb suchte er eine öffentliche Telefonzelle und holte eine alte Telefonkarte aus seiner Börse. Er hatte das Gefühl, als sei er gerade in die Wellblechhütte gestiegen, in der die Japaner Alec Guinness in Die Brücke am Kwai eingeschlossen hatten. Schweiß lief ihm am Körper herunter, kitzelte ihn, sein Hemd klebte auf der Haut. Eine dicke Schmeißfliege
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