Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
wie ich vermutet habe«, sagte Dr. O'Neill. »Die Brusthöhle ist voller Blut, genau wie die anderen Körperhöhlen. Massive innere Blutungen.«
»Hat sie noch lange gelebt?«
Dr. O'Neill fuhr mit seiner Untersuchung fort und schwieg ein paar Minuten, dann sagte er: »Ihrem Zustand zufolge höchstens Sekunden. Sehen Sie hier? Er hat das Messer so heftig gedreht, dass er ihr sogar ein Stück vom Herzen abgeschnitten hat.«
Chadwick schaute hin. Ihn interessierte, was Dr. O'Neill zu zeigen hatte, aber er sah nur eine Masse glänzenden, blutigen Gewebes. »Wenn Sie das sagen«, gab er zurück.
Dr. O'Neills Assistent begann, vorsichtig die inneren Organe zu entnehmen, damit sie aufgeschnitten werden und weitere Tests und Untersuchungen daran vorgenommen werden konnten. Falls nichts Unvorhergesehenes passierte, würden ein paar Tage vergehen, bis Chadwick alle Ergebnisse erhielt. Es gab keinen Grund, weiter hier zu bleiben, und er hatte mehr als genug zu tun. Als Dr. O'Neill die Säge anwarf, um den Schädel des Opfers aufzuschneiden und das Gehirn zu entnehmen, verließ Chadwick den Raum.
Der Samstagmorgen war klar und heiter, Helmthorpe wirkte wie frisch gewaschen und geputzt: Die Straßen, die Kalksteinhäuser und die steingedeckten Dächer waren noch dunkel vom Regen, aber die Sonne schien, der Himmel war blau, und ein kühler Wind rüttelte an den kahlen Zweigen.
Banks nestelte an dem Anschluss, mit dem er seinen iPod über die Anlage des Autos hören konnte, und wurde mit der Stimme von Judy Collins belohnt, eine Stimme, die so schön und klar war, dass es fast weh tat und Banks nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte. Sie sang »Who Knows Where the Time Goes«. Sandy Dennys Text hatte noch nie so schwermütig geklungen. Banks musste unwillkürlich an seinen Bruder Roy denken. Fast vorwurfsvoll glitt der Porsche ruhig und kraftvoll durch die spät herbstliche Landschaft.
Nachdem Annie die Lasagne gegessen und ein kleines Glas Wein getrunken hatte, war sie nach Harkside gefahren und hatte Banks sich selbst überlassen. Es war schon nach zwei Uhr gewesen, doch er hatte sich noch ein Glas Amarone eingeschenkt und sich im Dunkeln Fischer-Dieskaus Winterreise von 1962 angehört, bevor er voll düsterer Gedanken ins Bett gegangen war. Er hatte trotzdem nicht einschlafen können. Teilweise war das Sodbrennen schuld, weil er so spät gegessen hatte - er wünschte, er hätte das Magenmittel von Nick genommen, denn er hatte keins im Haus -, teilweise lag es an den verstörenden Träumen, die er hatte, sobald er doch mal kurz einnickte. Mehrmals war er mit heftig klopfendem Herzen hochgeschreckt, ein verschwommenes, schreckliches Bild vor Augen, das sich sogleich wieder in den dunklen Tiefen seines Unterbewusstseins verlor. Dann hatte er wach im Bett gelegen und versucht, ruhig und tief zu atmen. Eine Stunde, bevor der Wecker klingelte, war er schließlich eingeschlafen.
Die Mannschaft hatte sich im Sitzungssaal versammelt, wo Fotos vom Tatort an der Pinnwand hingen. Die weiße Tafel hingegen war bis auf den Namen »Nick« verdächtig leer. Ein Tatorteinsatzwagen, ausgestattet mit Telefonen und Computern, war bereits früh am Morgen nach Fordham geschickt worden. Die Erkenntnisse, die dort gewonnen wurden, würden zusammengefasst und an das Präsidium weitergeleitet werden. Banks war vom stellvertretenden Polizeipräsidenten Ron McLaughlin offiziell zum Ermittlungsleiter ernannt worden, Annie war seine Stellvertreterin. Weitere Aufgaben würden anderen Kollegen je nach Eignung zugewiesen werden.
Nachdem Detective Superintendent Gristhorpe vor zwei Monaten in den Ruhestand getreten war, war ihnen eine vorübergehende Vertretung in Form von Catherine Gervaise vorgesetzt worden. Es wurde gemunkelt, dass Banks den Posten hätte bekommen sollen, doch er wusste, dass das nicht zu erwarten gewesen war. Sicherlich war er mit McLaughlin, dem »roten Ron«, und dem Polizeipräsidenten bei ihren wenigen Begegnungen ziemlich gut zurechtgekommen, doch Banks war unberechenbar. Nicht nur dass er heimlich nach London aufgebrochen war, um dort seinen Bruder zu suchen, sondern auch seine Verwicklung in die darauffolgenden Ereignisse hatten ihm so manchen Nagel am Sarg seiner Karriere eingebracht. Abgesehen davon, war er weder auf die Verantwortung noch auf den Papierkram scharf. Gristhorpe hatte ihm bei der Bearbeitung seiner Fälle immer freie Hand gelassen, sodass Banks einen Großteil der
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