Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
machen.«
»Jawohl, Ma'am«, murmelten alle im Chor. Superintendent Gervaise verließ den Raum. Ihre Absätze klapperten über den Holzfußboden. Erst als sie fort war, fiel Banks ein, dass er vergessen hatte, ihr von den Zahlen in dem Buch zu erzählen.
* Montag, 8. September 1969
Als Chadwick am Abend nach Hause kam, schaute Janet gerade die Zehn-Uhr-Nachrichten. Reginald Bosanquet berichtete über die aufregende neue Ausstrahlung in Farbe vom Sendeturm in Crystal Palace. Alles schön und gut, dachte Chadwick, wenn man denn einen Farbfernseher besaß. Er hatte jedenfalls keinen. Nicht von seinem Inspector-Gehalt, das sich auf etwas über zweitausend Pfund im Jahr belief. Janet kam ihm entgegen.
»War es ein harter Tag?«
Chadwick nickte, gab ihr einen Kuss und nahm in seinem Lieblingssessel Platz.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Ein kleiner Whisky würde mir guttun. Ist Yvonne noch nicht da?« Chadwick sah auf die Uhr. Zwanzig nach zehn.
»Nein.«
»Weißt du, wo sie ist?«
Janet hielt beim Einschenken des Whiskys inne. »Sie hat nur gesagt, dass sie mit Freunden ausgehen würde.«
»Sie soll während der Woche nicht so oft ausgehen. Das weiß sie genau.«
Janet reichte ihrem Mann das Glas. »Sie ist sechzehn. Wir können nicht erwarten, dass sie alles so macht, wie wir es gerne hätten. Die Zeiten haben sich geändert. Jugendliche haben heutzutage viel mehr Freiheit.«
»Freiheit? Solange sie unter diesem Dach lebt, können wir ja wohl ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und Respekt von ihr erwarten, oder etwa nicht?«, widersprach Chadwick. »Als Nächstes bricht sie die Schule ab und läuft weg, um in einer Hippie-Kommune zu leben. Freiheit!«
»Ach komm, übertreib nicht, Stan. Sie hat gerade eine schwierige Phase, das ist alles.« Janets Stimme wurde sanfter. »Sie kommt schon wieder zu sich. Warst du mit sechzehn nicht auch ein klein bisschen rebellisch?«
Chadwick versuchte sich zu erinnern. Er glaubte es nicht. 1937 war er sechzehn gewesen, das war noch vor der Erfindung des Wortes »Teenager«, als die Jugend nur eine unglückliche Phase war, die man auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen durchmachen musste. Eine andere Welt. George VI. wurde in dem Jahr gekrönt, Neville Chamberlain wurde Premierminister und schien gut mit Hitler auszukommen, der Spanische Bürgerkrieg erreichte seinen blutigen Höhepunkt. Doch Chadwick hatte der Weltpolitik nur wenig Beachtung geschenkt. Damals ging er dank eines Stipendiums aufs Gymnasium, gehörte zu den fünfzehn besten Rugby-Spielern und strebte eine Universitätskarriere an, die durch den Krieg zunichte gemacht und danach nicht weiter verfolgt wurde.
1940 hatte er sich freiwillig beim Regiment der Green Howards gemeldet, weil sein Vater dort im Ersten Weltkrieg gedient hatte. Die folgenden fünf Jahre verbrachte er damit, zuerst Japaner und dann Deutsche zu töten und selbst am Leben zu bleiben. Als das vorüber war, als er aus dem Kriegsdienst entlassen und ins Zivilleben zurückgekehrt war, brauchte er sechs Jahre, um darüber hinwegzukommen. Sechs Jahre aussichtsloser Arbeitsstellen, depressiver Schübe, Einsamkeit und Hunger. Im harten Winter 1947 war er fast erfroren. Dann schien es plötzlich bergauf zu gehen, er gewann an Zuversicht. 1951 trat er der berittenen Polizei des westlichen Verwaltungsbezirks bei. Ein Jahr später lernte er auf einer Tanzveranstaltung Janet kennen. Nur drei Monate später heirateten sie, und ein Jahr darauf, im März 1953, kam Yvonne zur Welt.
Rebellisch? Nein, das glaubte er nicht. Damals war es das Schicksal jedes jungen Mannes, in den Krieg zu ziehen - genau wie die Generation davor -, und in der Armee hatte man zu gehorchen. Chadwick hatte den gleichen harmlosen Unfug wie alle anderen getrieben: geraucht, bevor er alt genug dafür war, den einen oder anderen Ladendiebstahl begangen, Whisky aus der Flasche seines Vaters getrunken und die fehlende Flüssigkeit mit Wasser aufgefüllt. Hin und wieder hatte er sich auch mal geprügelt. Doch er hätte niemals gewagt, seinen Eltern nicht zu gehorchen. Wenn er ohne Erlaubnis über Nacht fortgeblieben wäre, hätte ihn sein Vater grün und blau geprügelt.
Chadwick schnaubte verächtlich. Er nahm nicht an, dass Janet wirklich eine Antwort haben wollte; sie versuchte bloß, den Boden für Yvonnes Heimkehr zu ebnen. Hoffentlich kam sie bald nach Hause.
Um Viertel vor elf waren die Nachrichten
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