Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
Springmesser mit einem Griff aus Schildpatt. McGarrity sprach mit niemandem, beteiligte sich auch nicht an Diskussionen. Manchmal lief er auf und ab, schlug mit der Klinge seines Messers unablässig auf die Handfläche und rezitierte Gedichte vor sich hin. Meistens war es »The Waste Land« von T. S. Eliot. Yvonne erkannte die Zeilen nur, weil Steve ihr vor nicht allzu langer Zeit das Buch ausgeliehen und erklärt hatte, was das Gedicht bedeutete.
Manche fanden McGarrity in Ordnung, doch Yvonne war er alles andere als geheuer. Einmal hatte sie Steve gefragt, warum sie ihn duldeten, doch Steve hatte nur knapp erwidert, McGarrity sei eigentlich harmlos, sein Verstand habe bloß ein wenig gelitten, weil er nach dem Desertieren aus der Armee in der Nervenheilanstalt mit Elektroschocks behandelt worden sei. Und außerdem, wenn sie eine freie und offene Gesellschaft wollten, wie konnten sie es dann rechtfertigen, Leute wie ihn auszuschließen? Dagegen konnte man nicht viel einwenden, auch wenn Yvonne sich sehr wohl vorstellen konnte, dass es einige Leute gab, die ihre Freunde nicht im Haus hätten haben wollen: zum Beispiel ihren Vater. McGarrity war ebenfalls in Brimleigh gewesen, aber zum Glück war er allein herumgestreift und hatte die anderen in Ruhe gelassen.
Yvonne merkte, wie Steves Hand sanft über ihren Oberschenkel strich, und warf ihm ein Lächeln zu. Es war in Ordnung, es gefiel ihr. Ihre Eltern wussten nichts davon, aber sie nahm die Pille, seit sie sechzehn war. Die Pille war schwer zu bekommen, und niemals hätte sie den alten Mr. Cuthbertson, den Hausarzt der Familie, danach fragen können. Aber ihre Freundin Maggie hatte von einer neuen Familienberatungsstelle in der Woodhouse Lane erzählt, wo man sehr besorgt über Teenagerschwangerschaften und sehr entgegenkommend war, wenn das Mädchen angab, das Ehemündigkeitsalter erreicht zu haben.
Steve küsste Yvonne und legte die Hand auf ihre Brust. Der Stoff, den sie rauchten, war nicht besonders stark, aber er machte Yvonne empfänglicher für Berührungen, und sie spürte, wie sie auf Steves Zärtlichkeiten reagierte und feucht wurde. Er knöpfte die Bluse ihrer Schuluniform auf, und dann fühlte sie, wie seine Hände ihre nackten Oberschenkel hinaufwanderten. Jimi Hendrix sang »1983«, als Steve und Yvonne sich gegenseitig entkleideten.
* Montag, 8. September 1969
Chadwick lehnte sich gegen die kühlen Fliesen der Leichenhalle und sah zu, wie Dr. O'Neill und sein Assistent im grellen Licht arbeiteten. Obduktionen hatten ihm nie etwas ausgemacht, und diese hier stellte keine Ausnahme dar, auch wenn ihn das Opfer zuvor an Yvonne erinnert hatte. Jetzt war es nur noch ein bedauernswertes, totes Mädchen auf dem Tisch. Ihr Leben war entwichen, war ihr geraubt worden, und zurückgeblieben waren Fleisch, Muskeln, Blut, Knochen und Organe. Und womöglich Hinweise.
Die Kornblume auf der toten Wange wirkte in dieser sterilen Umgebung aus Stahl und Keramik noch unpassender. Unwillkürlich fragte sich Chadwick, und zwar nicht zum ersten Mal, ob sie von dem Mädchen selbst, von einer Freundin oder sogar vom Mörder gemalt worden war. Und falls es Letzterer gewesen war, was hatte die Blume zu bedeuten?
Nachdem Dr. O'Neill die Anordnung der Löcher im Stoff mit den Verletzungen verglichen hatte, entfernte er vorsichtig das blutige Kleid und legte es mit dem Schlafsack für weitere gerichtsmedizinische Untersuchungen zur Seite. Bisher hatten sie herausgefunden, dass der Schlafsack eine verbreitete, billige Marke war, die hauptsächlich bei Woolworth verkauft wurde.
Der Arzt beugte sich über den blassen, nackten Körper, um die Stich wunden zu begutachten. Er stellte fest, dass es insgesamt fünf waren. Eine davon war mit solcher Wucht ausgeführt worden, dass sich rundherum ein blauer Fleck gebildet hatte. Wenn der blaue Fleck vom Heft des Messers stammte, wovon Dr. O'Neill ausging, dann handelte es sich um eine einschneidige Klinge von zehn Zentimeter Länge, die eine stilettartige Form haben musste. Aufgrund der Elastizität der Haut musste sie etwas breiter als die nun sichtbaren Wunden gewesen sein. Der Arzt tippte auf ein Springmesser. Die waren in Großbritannien zwar verboten, aber auf dem Kontinent leicht zu besorgen.
Von der Anordnung der Wunden schloss Dr. O'Neill, dass das Opfer von hinten von einem kräftigen Linkshänder angegriffen worden war. Da die Hände keinerlei Verletzungen aufwiesen, schien die Frau
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