Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
Erdgeschoss und ersten Stock, mit Garage und Nebengebäuden. In den Dales, dachte Annie, wäre so etwas inzwischen ungefähr eine halbe Million Pfund wert, aber sie wusste nicht, wie die Preise im Peak District waren. Wahrscheinlich gab es keinen großen Unterschied. Die beiden Gegenden hatten vieles gemeinsam, nicht zuletzt die Hügel und Täler aus Kalkstein. Und hier wie dort fielen fast das ganze Jahr über Horden von Touristen, Wanderern und Kletterern ein.
Winsome parkte am Tor, dann gingen sie über den Gartenpfad auf das Haus zu. Die in den Bäumen zwitschernden Vögel vervollständigten das ländliche Idyll. Die Frau, die Annie und Winsome öffnete, hatte allem Anschein nach geweint. Annie war froh, nicht diejenige sein zu müssen, die die schlechte Nachricht überbrachte. Sie hasste das. Die letzte Frau, der sie die Mitteilung vom Tod ihrer Freundin machen musste, war ohnmächtig geworden.
»Annie Cabbot und Winsome Jackman von Kapitalverbrechen North Yorkshire«, stellte sie sich vor.
»Ja, kommen Sie herein«, sagte die Frau. »Wir haben schon mit Ihnen gerechnet.« Wenn der Anblick einer eins achtzig großen Schwarzen sie erstaunte, so ließ sie sich nichts anmerken. Wahrscheinlich sah sie sich im Fernsehen Krimis an und hatte sich an eine Multikulti-Polizei gewöhnt, selbst in einer solch »weißen« Enklave wie den Peaks.
Die Frau geleitete die beiden Beamtinnen durch einen dunklen Flur, wo Mäntel an Haken hingen und Stiefel und Schuhe säuberlich nebeneinander auf einem kleinen Regal standen. Sie gelangten in ein luftiges Wohnzimmer mit Glastüren, die in den Garten führten. Man sah einen akkurat geschnittenen Rasen mit einem steinernen Vogelbad, Rabatten, einem weißen Plastiktisch und Stühlen. Der herrliche Blick über die Felder zu den Kalksteingipfeln in der Ferne wurde von Platanen gerahmt. Der Himmel war hellgrau, irgendwo im Norden versteckte sich die Sonne hinter den Wolken.
»Wir sind gerade von der Kirche zurückgekommen«, erklärte die Frau. »Wir gehen jeden Sonntag hin, und heute war es uns besonders wichtig.«
»Natürlich«, sagte Annie. Sie selbst war ohne Religion aufgewachsen, und ihre spirituellen Experimente mit Yoga und Meditation hatten ihr die organisierten Religionen nicht näher gebracht. »Das mit Ihrem Sohn tut uns sehr leid, Mrs. Barber.«
»Bitte nennen Sie mich Louise«, sagte sie. »Mein Mann, Ross, macht gerade Tee für uns. Ich hoffe, das ist Ihnen recht?«
»Das ist perfekt«, entgegnete Annie.
»Setzen Sie sich doch!«
Auf den chintzbezogenen Sesseln lagen makellose Schonbezüge aus Spitze. Vorsichtig nahm Annie Platz, traute sich aber kaum, das Material mit dem Hinterkopf zu berühren. Kurz darauf brachte ein großer, schlanker Herr mit wirrem weißen Haar, einem grauen Pullover mit V-Ausschnitt und einer weiten Cordhose ein Tablett herein und stellte es auf den flachen Glastisch zwischen den Sesseln und dem Kamin. Sein Aussehen erinnerte ein wenig an einen verrückten Wissenschaftler, der im Kopf komplizierte Berechnungen durchführte, doch nur mit Mühe seine Schuhe zubinden konnte. Annie bewunderte den gerahmten Druck von Seurats Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande latte über dem Kamin.
Als der Tee eingeschenkt war und alle bequem saßen, holte Winsome ihren Notizblock heraus, und Annie begann. »Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist, aber alles, was Sie uns über Ihren Sohn sagen können, würde uns sehr helfen.«
»Haben Sie schon einen Verdächtigen?«, fragte Mr. Barber.
»Leider nicht. Es ist noch früh am Tag. Wir versuchen zuerst einmal zu rekonstruieren, was überhaupt passiert ist.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand unserem Nicholas etwas antun sollte. Er war völlig harmlos. Konnte keiner Fliege was zuleide tun.«
»Oft sind die Unschuldigen das Opfer«, bemerkte Annie.
»Aber Nicholas ...« Mr. Barber verstummte.
»Hatte er Feinde?«
Ross und Louise Barber schauten sich an. »Nein«, sagte Louise. »Ich meine, davon hat er nichts gesagt. Und wie Ross schon erwähnte, er war ein sehr sanfter Mensch. Er liebte seine Musik, seine Bücher und Filme. Und natürlich das Schreiben.«
»Er war nicht verheiratet, oder?« Sie hatten keinen Hinweis auf eine Ehefrau gefunden, aber Annie wollte auf Nummer sicher gehen. Wenn eine eifersüchtige Gattin Wind davon bekommen hätte, was Barber mit Kelly Soames trieb, hätte sie ohne weiteres
Weitere Kostenlose Bücher