Inspector Alan Banks 16 Im Sommer des Todes
nach unten.
»Ich weiß, dass Sie den Zug erreichen müssen«, sagte Detective Superintendent Catherine Gervaise am frühen Montagmorgen zu Banks, »aber ich möchte vorher noch kurz mit Ihnen sprechen.«
Banks saß ihr in Gristhorpes ehemaligem Büro gegenüber. Der Raum war jetzt viel zurückhaltender eingerichtet, in den Regalen standen nur noch Bücher über Jura, Kriminologie und Management. Fort waren die dicken, in Leder gebundenen Wälzer von Dickens, Hardy und Austen, die Bücher über Fliegenfischen und das Bauen von Trockenmauern, mit denen Gristhorpe sich umgeben hatte. In einem Regal standen mehrere Pokale für Erfolge im Bogenschießen, daneben ein Foto, auf dem Superintendent Gervaise den Bogen anlegte und zielte. Die einzige richtige Dekoration war das Poster einer alten Covent-Garden- Inszenierung von Tosca.
»Wie Sie wahrscheinlich wissen«, begann Gervaise, »ist dies meine erste Mordermittlung in dieser Stellung, und ich bin mir sicher, dass die Kollegen im Dienstzimmer sich schon herrlich auf meine Kosten amüsiert haben.«
»Überhaupt ni -«
Sie winkte ab. »Egal. Darum geht es hier nicht.« Gervaise schob einige Zettel auf dem Schreibtisch zurecht. »Ich bin bestens über Sie im Bilde, DCI Banks. Es ist mir wichtig, so viel wie möglich über die mir unterstehenden Beamten zu wissen.«
»Ein sehr kluger Entschluss«, sagte Banks und fragte sich, ob jetzt noch mehr Platitüden kämen.
Gervaise warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Zum Beispiel Ihre Neigung zu billigem Sarkasmus«, sagte sie. »Aber deshalb sind wir auch nicht hier.« Sie lehnte sich in ihrem teuren Ledersessel zurück und lächelte. Ihre elegant geschwungenen Lippen hoben sich in den Winkeln, als wolle sie einen Pfeil abschießen. »Ich möchte völlig offen zu Ihnen sein, DCI Banks, wenn ich das darf. Dabei gehe ich davon aus, dass alles, was hier heute Morgen in diesen vier Wänden gesprochen wird, unter uns bleibt. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ja«, antwortete Banks und fragte sich, was nun wohl kommen würde.
»Mir ist bewusst, dass Sie vor kurzem unter schrecklichen Umständen Ihren Bruder verloren haben. Ihnen gilt mein aufrichtiges Beileid. Ebenso ist mir bewusst, dass Sie vor nicht allzu langer Zeit Ihr Haus und fast sogar Ihr Leben verloren haben. Insgesamt war das ein ziemlich ereignisreiches Jahr für Sie, nicht wahr?«
»Das stimmt, aber ich hoffe, dass das keine Auswirkungen auf meine Arbeit gehabt hat.«
»Oh, ich denke, dass wir das durchaus annehmen dürfen, nicht?« Gervaise trug eine ovale Brille mit silbernem Gestell, die sie beim Blick auf die Papiere vor sich zurechtrückte. »Vorenthalten von Informationen in einer wichtigen Ermittlung, Angriff auf einen Verdächtigen mit einer Eisenstange. Soll ich weiterlesen? Sie müssen nicht sonderlich ermutigt werden, um ein wenig überzureagieren, DCI Banks, nicht wahr? War schon immer so. Ihre Akte ist ein Flickenteppich fragwürdiger Entscheidungen und unverblümter Aufsässigkeit. Res ipsa loquitur, wie die Anwälte gerne sagen.«
Na super, dachte Banks, auch noch lateinische Zitate. Tolle Sache. »Hören Sie«, sagte er. »Ich gebe zu, dass ich öfter mal eine Abkürzung genommen habe. Wenn man in diesem Beruf den Verbrechern voraus sein will, muss man das tun. Aber ich habe nie einen Meineid geleistet, ich habe nie Beweise manipuliert und niemals jemanden zu einem Geständnis gezwungen. Ich gebe zu, dass ich letzten Sommer in London die Nerven verloren habe, aber wie Sie schon sagten, das war eine private Tragödie. Sie sind der neue Besen, ist mir schon klar. Sie möchten gründlich auskehren. Kein Problem. Wenn ich auf der Versetzungsliste stehe, dann bitte.«
»Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Vielleicht haben Sie so etwas angedeutet?«
Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Sie sind sehr gut mit meinem Vorgänger ausgekommen, Detective Superintendent Gristhorpe, nicht wahr?«
»Er war ein guter Polizist.«
»Was soll das heißen?«
»Was ich gesagt habe. Mr. Gristhorpe war ein erfahrener Beamter.«
»Und er ließ Ihnen weitgehend freie Hand.«
»Er wusste, wie man Sachen erledigt.«
»Aha.« Superintendent Gervaise beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich möchte Ihnen etwas sagen, das Sie vielleicht überraschen wird. Ich möchte gar nicht, dass Sie sich ändern. Ich möchte ebenfalls, dass die Sachen
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