Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
schon zwanzig Jahre her. Ich war damals an der Uni und bei Harriet zu Besuch. Ich glaube, du warst gerade nebenan eingezogen, und sie stellte uns einander vor.«
»Zwanzig Jahre«, staunte Banks. »Seitdem hat sich vieles getan.«
»Bei dir und bei mir. Hör mal, ich dachte, selbst so ein berühmter Polizist wie du muss hin und wieder mal ein paar Stunden frei haben. Ich dachte, ob du wohl Lust hättest, mich zu einer von diesen Wanderungen mitzunehmen, von denen du eben erzählt hast? Vielleicht morgen Nachmittag?«
»Aber gerne«, sagte Banks.
»Super. Ich gebe dir meine Handynummer. Hast du was zu schreiben? Aber nicht den kleinen Block von der Polizei. Da möchte ich nicht zusammen mit den ganzen Verdächtigen und Perversen drinstehen.«
»Keine Sorge.« Banks holte eine Quittung von Somerfield aus der Hosentasche und einen Stift aus der Jacke. »Schieß los!«
Sophia nannte ihm ihre Nummer. Er schrieb sie schnell hinten auf die Quittung und hatte dabei das unerklärliche Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, das Harriet nicht sehen durfte.
»Ich rufe dich morgen an, wenn ich absehen kann, wann ich fertig bin«, sagte er. »Aber ich glaube, das wird kein Problem.«
»Super!«
Sie standen im Schein der Straßenlaterne und schwiegen. Einen Augenblick hatte Banks das sonderbare Gefühl, dass es jenseits von ihnen keine Welt mehr gab. »Also gut«, sagte er. »Ich geh dann mal. Kann ich dich irgendwo absetzen?«
»Nein. Schon gut. Ist nicht weit. Ich gehe gerne zu Fuß.«
»Ganz bestimmt nicht?«
»Nein, kein Problem. Da ist Harriet ja.« Sophia wandte sich ab. »Bis morgen dann«, flüsterte sie ihm über die Schulter zu.
»Ja«, antwortete Banks. Dann trat er aus dem sonderbaren Licht zurück in die wahre Welt der Schatten, wo er sofort irgendjemanden rufen und eine Flasche zerschellen hörte. Samstagabend in Eastvale. Er stieg in den Porsche, stellte seinen iPod an und drehte »Just Like Honey« von The Jesus & Mary Chain auf volle Lautstärke, während er sich auf den Weg nach Gratly machte.
Entgegen ihrem mutigen Auftritt war Chelsea reichlich nervös, als sie durch die Passage an der Castle Road ging, vorbei an den geschlossenen Läden - Times, Whittard's, Castle Books -, und das Labyrinth betrat. Fünf Minuten konnten sehr lang sein, und es konnte eine Menge passieren.
Ihre Schritte hallten von den hohen Mauern zurück. Hin und wieder warf eine matte Glühbirne über der Tür eines Lagerhauses Chelseas langen Schatten auf das Kopfsteinpflaster. Fast wäre sie über eine Katze gestolpert, die laut aufschrie und davon-huschte. Chelseas Herz pochte immer schneller. Vielleicht hätte sie Mickeys Wette doch nicht annehmen sollen. Für zehn Mäuse konnte man sich heutzutage nicht mehr viel leisten. Doch sie wusste, dass es nicht das Geld gewesen war - es war ihr Stolz.
Hayley Daniels war von einem Exfreund umgebracht worden, redete Chelsea sich immer wieder ein. Vergiss das nicht! Dann fragte sie sich, ob sie auch Exfreunde hatte, die sie umbringen wollten. Sie war in der letzten Zeit gemein genug gewesen, das wurde ihr klar. Zuerst einmal hatte sie Derek Orton betrogen, und der war nicht gerade erfreut gewesen, als er es herausbekam. Die Briefe und E-Mails von Paul Jarvis hatte sie monatelang nicht erwidert, als sie zur Universität Strathclyde ging, bis er es schließlich aufgab. Verfolgte er sie vielleicht? Zigmal hatte er geschworen, sie zu lieben. Dann hatte sie, nur um Ian McRae zu ärgern, mit seinem besten Freund geschlafen und dafür gesorgt, dass er es erfuhr. Das war so ungefähr das Schlimmste gewesen. Aber Ian saß doch noch im Knast, weil er eine alte Frau überfallen hatte, oder?
Chelsea bog um die nächste Ecke und wagte sich tiefer ins Labyrinth hinein. Sie wusste, wo sie war. Es dauerte ungefähr fünf Minuten, um von der Passage an der Castle Road zum Ausgang des Parkplatzes zu gelangen. Doch je weiter sie vordrang, desto mehr Angst bekam sie, desto heftiger fuhr sie bei dem kleinsten Geräusch und Schatten zusammen und verfluchte Mickey, sie hier reingetrieben zu haben.
Als Chelsea einen schlecht beleuchteten Platz überquerte, meinte sie, hinter sich ein Rascheln zu hören, ein Geräusch, wie es Kleider beim Gehen machen. Sie drehte sich um und erstarrte, als sie einen ganz in Schwarz gekleideten Mann erblickte, dessen Gesicht im Dunkeln lag. Im Kopf begann sie zu rechnen. Wenn sie jetzt loslief, würde sie es
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