Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
Altstadt von Whitby, unterhalb der Abteiruine. Der Laden war nicht schlecht, wusste Annie, und sie ging dort nicht mit ihren Kollegen hin. Aber wieso dachte sie überhaupt darüber nach? Die Kunst des Loslassens üben!
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Ich bin um zwölf Uhr da«, sagte Eric. »Weißt du noch, wie ich aussehe?«
Annie erinnerte sich an ein junges Gesicht mit vom Schlafen angedrücktem Haar, an eine Locke in der Stirn, über Nacht gewachsene Bartstoppeln, breite Schultern und überraschend zarte Hände. »Ja, weiß ich noch«, sagte sie. »Aber ich werde nicht kommen.« Dann drückte sie die rote Taste, um das Gespräch zu beenden.
Eine Weile hielt sie das Handy mit klopfendem Herzen in ihrer zitternden Hand, so als sei es eine geheimnisvolle Waffe, doch es klingelte nicht mehr. Dann arbeitete sich eine sehr unangenehme Erinnerung an die Oberfläche ihres Bewusstseins.
Sie hatte das neue Handy erst seit einer Woche. Es war ein BlackBerry Pearl, mit dem man telefonieren, simsen und mailen konnte, und Annie musste noch die ganzen Kniffe und Tricks lernen, zum Beispiel den Umgang mit der Kamera. Ihr fiel wieder ein, dass Eric dasselbe Modell hatte und ihr einige der fortschrittlichen Funktionen vorgeführt hatte.
Mit zitternder Hand klickte Annie auf die letzten Fotos. Da waren sie: Ihr Kopf und der von Eric waren aneinandergelehnt und füllten fast das kleine Display, sie schnitten Grimassen in die Kamera, im Hintergrund die Clubbeleuchtung. Annie fiel wieder ein, dass sie das Foto auf sein Handy geschickt hatte. So war er an ihre Nummer gekommen. Wie konnte sie nur so einen Blödsinn machen?
Sie steckte das Handy in die Handtasche. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Sie hätte wissen müssen, dass sie ihrem eigenen Urteil in solchen Dingen nicht trauen konnte. Außerdem war Eric noch ein Kind. Freu dich drüber und lass los, sagte sie sich. Genug jetzt! Warum ließ sie sich von ihrem Verhalten überhaupt so sehr herunterziehen? Annie nahm einen Zettel vom Schreibtisch. Es war Zeit, mit der Sozialarbeiterin zu sprechen, die Karen Drew in Mapston Hall untergebracht hatte. Die arme Frau musste doch irgendein Leben vor ihrem Unfall gehabt haben.
Bei der Obduktion verhielt sich Dr. Elizabeth Wallace längst nicht so großspurig und respektlos wie Glendenning, stellte Banks am späten Montagvormittag im Keller des Allgemeinen Krankenhauses von Eastvale fest. Zurückhaltend und konzentriert nahm Dr. Wallace Notiz von Banks' Anwesenheit, nickte ihm kurz zu und bereitete mit ihrer Assistentin Wendy Gauge die Leichenöffnung vor. Die beiden Frauen vergewisserten sich, dass die nötigen Instrumente bereitlagen und dass das um Dr. Wallace' Hals hängende Mikrofon, in das sie ihr Protokoll sprach, einwandfrei funktionierte. Sie hielt ihre Gefühle unter Kontrolle, erkannte Banks an ihrer Schmallippigkeit und dem zuckenden Kiefermuskel. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Ärztin in diesem Raum rauchte, so wie er es mit Glendenning getan hatte, oder dass sie neben der Leiche stand und schlechte Witze riss.
Zuerst führte Dr. Wallace überlegt und methodisch die äußerliche Untersuchung durch. Sie nahm sich viel Zeit dafür. Die Leiche war bereits auf Spuren abgesucht worden, man hatte Abstriche gemacht. Alles, was der Arzt und die Spurensicherung an Hayley Daniels gefunden hatten, war zur Analyse ins Labor geschickt worden, auch die Lederreste aus ihrem Mund, mit denen sie wohl ruhiggestellt wurde. Banks warf einen kurzen Blick auf Hayley, wie sie dort blass und nackt auf dem Tisch lag. Er konnte nicht anders, er musste auf den rasierten Schambereich schauen. Am Tatort hatte man es ihm schon gesagt, aber es war doch etwas ganz anderes, es mit eigenen Augen zu sehen. Kurz über dem Venushügel war eine Tätowierung mit zwei kleinen blauen Fischen, die in unterschiedliche Richtungen schwammen. Ihr Sternzeichen.
Dr. Wallace bemerkte Banks' Blick. »Das ist nichts Ungewöhnliches«, sagte sie. »Das heißt noch lange nicht, dass sie anschaffen ging oder so. Es ist auch nicht frisch, sondern schon ein paar Monate alt, vom Mörder kann es also nicht sein. Solche Tattoos sind ziemlich weit verbreitet, und heutzutage lassen sich viele Mädchen den Intimbereich rasieren oder wachsen. Man nennt es >Brazilian<.«
»Warum?«, fragte Banks. »Das muss doch weh tun.«
»Ist modern. Angesagt. Angeblich soll es auch die Lust beim Geschlechtsverkehr
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