Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht
auf. »Wenn es ein weiteres Opfer des Chamäleon-Falls gab, dann sie.«
Hartnell wandte sich an Annie: »Sie haben doch in der Sache des von Janet Taylor getöteten Terence Payne ermittelt, nicht wahr?«
»Das hatte ich mir nicht ausgesucht«, gab Annie kurz angebunden zurück.
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Hartnell. »Es war eine schwere, undankbare Aufgabe, aber sie musste erledigt werden.« Zufällig wusste Banks, dass Annie diese »schwere, undankbare Aufgabe« ausgerechnet von Hartnell zugewiesen worden war, weil er Annie im Haus behalten wollte. Banks hatte sich damals für Annie eingesetzt, aber sie hatte zu der Zeit im Dezernat Interne Ermittlungen gearbeitet, kurz nach ihrer Beförderung zum Detective Inspector, und der Fall war ihr sozusagen in den Schoß gefallen. Annie wusste das alles nicht.
»Egal«, fuhr Annie fort, »Janet Taylor hatte einen älteren Bruder, und durch die ganze Geschichte ist er zu einem verbitterten Trinker geworden. Er soll hin und wieder Drohungen ausgestoßen haben, auch wenn sich seine Wut meistens gegen die polizeiliche Ermittlung hinsichtlich des Verhaltens seiner Schwester richtete. Es besteht die Möglichkeit, dass er einen starken Groll gegen Lucy Payne entwickelt hat. Wenn er dann auch noch wusste, wo sie untergebracht war ... Wir überprüfen ihn.«
»Gut«, sagte Hartnell. »Haben wir noch jemanden vergessen?«
»Also, ich meine ja bloß«, sagte Banks, »aber das ist sechs Jahre her. Ich will darauf hinaus, dass alle Beteiligten beträchtlich älter geworden sind. Alle sind älter geworden, wir auch.« Blackstone und Hartnell lachten. »Aber in manchen Fällen bedeutet es auch mehr.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Alan?«, fragte Hartnell.
»Also, Sir«, sagte Banks, »ich meine diejenigen, die damals noch Kinder waren. Ich denke speziell an Claire Toth. Sie war die beste Freundin von Kimberley Myers, dem letzten Opfer des Chamäleons, das wir nackt auf der Matratze im Keller von The Hill 35 fanden. Sie gingen gemeinsam zu der Party, aber als es an der Zeit war, dass Kimberley nach Hause musste, tanzte Claire mit einem Jungen, den sie mochte, und ließ Kimberley alleine gehen. Da wurde Kimberley von Payne geschnappt. Natürlich hatte Claire Schuldgefühle. Ich will nur sagen, dass es ein großer Unterschied ist, ob man fünfzehn oder zweiundzwanzig ist. Und sie lebt jetzt seit sechs Jahren mit diesen Schuldgefühlen. Sicher, Annie hat gesagt, Mel Danvers habe diese Mary für eine Frau von rund vierzig Jahren gehalten, aber sie hat sie ja eigentlich nicht richtig gesehen. Sie kann sich getäuscht haben. Ehrlich gesagt ist das Bild von ihr nicht zu gebrauchen. Ich will nur sagen: Schließen wir Claire oder andere nicht aus, nur weil sie jünger als vierzig sind, das ist alles.«
»Wir setzen sie auf jeden Fall mit auf die Liste«, erwiderte Hartnell. »Und umgekehrt wollen wir auch niemanden übersehen, der damals im Alter der Opfer war. Wie Alan sagt, verändern sich die Menschen mit der Zeit, und niemand schneller und unvorhersehbarer als junge Menschen. Dazu gehören auch Freunde, Freundinnen, Geschwister, alles. Ich hoffe, Sie haben eine große Mannschaft, DI Cabbot.«
Annie brachte ein knappes Lächeln zustande. »Es wird anstrengend, Sir, aber wir kommen schon klar.«
»Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Hartnell.
»Wenn Sie die Akten zum Chamäleon-Fall hier irgendwo für mich in einem Fach deponieren könnten? Ich muss vielleicht zwischendurch mal reinkommen und etwas nachschlagen.«
»Wird gemacht«, sagte Hartnell. »Ken, kümmern Sie sich darum?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Blackstone. »Und du kannst mein Büro nehmen, Annie. So viele freie Fächer haben wir nämlich nicht.«
»Danke, Ken«, sagte Annie.
Hartnell erhob sich und sah auf die Uhr, die Geste eines vielbeschäftigten Mannes. »Also, ich denke, damit wäre das besprochen«, sagte er. »Ich weiß, dass keiner von uns eine Träne über den Tod von Lucy Payne vergießt, doch gleichzeitig möchte wohl jeder, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.«
»Ja, Sir«, murmelten alle und verließen das Büro.
Auf dem Flur versuchte Banks, Annie einzuholen, aber sie lief auf einen offenen Fahrstuhl zu. Es gelang ihm, sie an der Schulter festzuhalten, doch sie schüttelte ihn mit solcher Heftigkeit ab, dass er stehen blieb. Er sah ihr nach, wie sie in den Aufzug stieg und sich die Türen hinter
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