Inspector Barnaby 01 Die Rätsel von Badgers Drift 02 Requiem für einen Mörder
und rief: »Miss Lacey!« Er hielt es für unwahrscheinlich, daß sie hier übernachtet hatte, aber falls doch, wollte er sie nicht erschrecken. Niemand antwortete. Er trat über die Schwelle ins Atelier.
Alles sah genauso aus wie gestern. Er hob die Gläser, Tuben und Tiegel hoch, öffnete sie und roch daran. Sie schienen nichts Ungewöhnliches zu enthalten. Die Pinsel waren nur Pinsel. In dem Eckschrank stapelten sich Bücher und Kataloge. Er schüttelte alle aus. Kein belastender Brief fiel auf den Boden. Da waren ein Fläschchen mit reinem Alkohol, ein paar farbverschmierte Lumpen, einige saubere, zusammengefaltete Tücher. Auf dem Fensterbrett stand nichts. Barnaby sah sich die Bilder genauer an.
Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte. Iris Rainbird hatte Laceys Bilder häßliche, grelle, gewaltsame Machwerke genannt. Barnaby war sich im klaren, daß diese Bemerkung eine gemeine Hoffnung in ihm geweckt hatte, Lacey sei ein talentloser Maler. Diese Hoffnung wurde jetzt zerstört.
Das erste Bild, das er in die Hand nahm, war das Porträt von Dennis Rainbird, und es war umwerfend. Die Farbe schimmerte, als wäre sie ganz frisch. Die Mischung aus Grau und Ockergelb erinnerte Barnaby an klebrigen, feuchten Lehm. Aus der Nähe besehen wirkte das Gemälde unfertig, fast roh, aber wenn man sich ein paar Schritte entfernte, erwachten die Feinheiten plötzlich zum Leben. Dennis trug ein Hemd mit offenem Kragen, dessen Umrisse genau wie die seiner Hände mit dem dunklen Hintergrund zu verschmelzen schienen. Die zarten, vogelgleichen Knochen unterhalb des Halses schimmerten durch die dünne Haut. Die Flächen des Gesichts waren mit dicken gelben Strichen gemalt, die auf wundersame Weise die Illusion von lebendigem Gewebe mit allen Unebenheiten hervorriefen. Der Mund war straff und der Blick nach innen gerichtet und spiegelte die geheimen Gedanken wider. Der Maler hatte viel mehr auf die Leinwand gebracht als Dennis Rainbirds äußere Erscheinung. Er hatte seine Herzensgeheimnisse offenbart. Kein Wunder, daß seine Mutter das Bild verabscheut hatte.
Ein anderes Porträt. Eine alte Frau mit einem Veilchenstrauß. Ihre Augen lagen tief in dem verwitterten braunen Gesicht. Ihr Ausdruck zeigte die Würde des Alters, obwohl ihre Lippen ein unbeschwertes, jugendliches Lächeln umspielte. Dort, wo der Tau noch auf den Veilchenblüten saß, war ein Hauch von Silber zu sehen. Es gab etliche abstrakte Bilder und ein paar Landschaften. Barnaby empfand widerwillige Bewunderung für den Künstler. Jetzt kam es ihm keineswegs mehr eigenartig vor, daß sich Lacey keinen Deut um das schäbige Haus scherte, wenn er all die schönen Bilder im Kopf hatte.
Kornfelder mit Klatschmohn, ein Ufer, über und über mit Wildblumen bedeckt. Zwei dieser Bilder hätten in Miss Simpsons Garten entstanden sein können. Alle waren Meilen entfernt von dem dezenten Naturalismus, den Barnaby und seine Kunstfreunde mit ihren Aquarellen anstrebten. Hier wölbte sich ein metallisch leuchtender Himmel über beinahe farblosen Stränden, Gebäude flimmerten in der Hitze, Gärten quollen über mit üppigen Pflanzen und Blumen; alles in goldenes Licht getaucht. Barnaby lehnte die Bilder an die Wand, und die Sonne schien von den Leinwänden zu strömen und strahlende Muster auf den Holzboden zu malen. Die abstrakten Gemälde waren riesig und schlicht. Dicke weiße Farbschichten und in einer Ecke ein explodierender Stern. Galaktische Ringe von immer intensiver werdender Farbe verengten sich zu einer teerschwarzen Flamme. Barnaby fand auch eine Zeichenmappe - er öffnete sie und zog ein paar Blätter heraus. Skizzen von Judy Lessiter, hastig hingeworfen, aber voller Leben. Dieser Anblick riß Barnaby in die Wirklichkeit zurück.
Er sah sich die Gemälde noch einmal an. Sie schienen keine Geheimnisse zu enthüllen. Nichts deutete darauf hin, daß sie unter Verschluß gehalten werden müßten. Als er zurücktrat, stieß er an die Staffelei. Sie kippte zur Seite, und das Tuch rutschte herunter. Barnaby stellte die Staffelei wieder auf und hängte das Tuch darüber. Plötzlich fiel ihm auf, daß das Bild auf der Staffelei eine andere Form hatte. Er war sicher, daß gestern eine größere Leinwand hier gestanden hatte. Das hieß, daß inzwischen jemand hier gewesen sein mußte und das Bild weggeschafft hatte.
»Bringen Sie Lacey zu mir.«
»Jawoll, Sir«, rief Troy zackig, trabte zur Tür und polterte die Treppe hinunter.
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