Inspector Barnaby 04 - Blutige Anfänger
Mit keiner dieser Frauen hätte sie über das reden können, was sie in diesem Moment so bedrückte.
Amy anzurufen stand jedoch völlig außer Frage. Honoria überwachte jedes Telefongespräch wie der Erzengel Gabriel und war sich nicht zu schade, ihrer Ansicht nach unnütze Unterhaltungen schroff zu unterbrechen.
Schließlich sank Sue in ihren Sessel und schloß die Augen, um die Ereignisse des Nachmittags noch einmal Revue passieren zu lassen und ihre Gedanken zu ordnen. Begonnen hatte der letzte Teil des erstaunlichen Nachmittags, nachdem Montcalm sie am Ende seiner Leine wie ein lästiges Anhängsel in die Küche von >Borodino< zurückgeschleppt hatte.
Rex saß vornübergebeugt, exakt in der Haltung am Küchentisch, wie sie ihn verlassen hatte. Er hatte geweint. Seine brüchige Haut um die Augen wirkte wie aufgeweichtes Löschpapier. Bevor sie noch etwas sagen konnte, brach es aus ihm heraus: »Ich habe ihn umgebracht, Sue! Ich war's. Ich hab's getan ... Ich hab's getan.«
Sue setzte sich zu ihm. »Nun mal alles der Reihe nach, Rex«, bat sie ihn geduldig. »Das müssen Sie mir schon näher erklären!«
Rex erzählte alles. Er begann mit Geralds Bitte um Hilfe und endete mit der Schilderung seines schändlichen Versagens.
Sue hörte aufmerksam zu und begriff plötzlich, was Rex so verändert hatte. Dabei machte sie allerdings nicht den Fehler, seine Verzweiflung zu unterschätzen oder auf die leichte Schulter zu nehmen. Der alte Herr hatte sich tagelang mit Selbstvorwürfen gequält, hatte apathisch vor Reue und Scham dahingedämmert. Was hätte passieren können, wäre sie nicht gekommen? Sue trug schwer an der Last der Verantwortung.
Sie überlegte lange, wie sie reagieren sollte, und sagte schließlich energisch: »Rex ... ich bin todsicher, daß Sie da eine ganz falsche Schlußfolgerung gezogen haben.«
Ihre Entschlossenheit schien Eindruck zu machen. Rex richtete sich am alten Küchentisch auf und sah sie entsetzt an. »Eine falsche Schlußfolgerung?«
»Natürlich.«
»Inwiefern?«
»Ganz einfach, weil es unmöglich ist.« Sue wußte selbst nicht, weshalb sie so sicher war, und suchte krampfhaft nach einer einleuchtenden Erklärung. Rex hoffnungsvoller Blick setzte sie dabei noch mehr unter Druck. »Weil ... weil er ein berühmter Schriftsteller ist.«
»Ich verstehe nicht...«
»Berühmte Schriftsteller begehen keinen Mord. Das haben sie nicht nötig. Sowas machen die einfach nicht.«
»... also ...«
»Nennen Sie mir einen ... nur einen berühmten Schriftsteller, der einen Mord begangen hat.« Sue wartete ... aber nicht allzu lange. Es gab schließlich keinen Grund, das Schicksal unnötig herauszufordern. »Fällt Ihnen wohl keiner ein, was?«
»Nicht auf die Schnelle, nein«, mußte Rex gestehen.
»Na, also.«
»Aber alles, was passiert ist... Gerald ...«
»Das verstehe ich. Trotzdem haben Sie die falschen Schlüsse daraus gezogen.«
»Wirklich?«
»Sicher doch. Das liegt an Ihren Schuldgefühlen. Die haben Ihnen einfach den Blick verstellt.«
»Großer Gott, ja. Das könnte wirklich sein.«
»Haben Sie sich denn nie gefragt, warum sich jemand im Wäldchen an Geralds Grundstücksgrenze verborgen hielt? Und das in einer so abscheulichen Nacht? Da muß doch jemand Geralds Haus beobachtet haben«, erklärte Sue.
»Sie meinen ... das könnte der Mörder gewesen sein?«
»Ich bin überzeugt davon. Und die Polizei ebenfalls«, flunkerte Sue um der guten Sache willen weiter. »Die Polizei hat den Garten gründlich nach Spuren abgesucht. Wenn Sie sich nicht in Ihren vier Wänden vergraben hätten, wäre Ihnen das auch aufgefallen.«
Sue konnte nur hoffen, mit ihrer Geschichte den Bogen nicht überspannt zu haben, aber der Zweck heiligte die Mittel. Rex hatte sich bereits sichtlich erholt, was seine nächsten Worte noch unterstrichen:
»Trotzdem gibt es keinen Zweifel, daß Gerald davor Angst hatte, mit Jennings allein gelassen zu werden.«
»Dafür könnte ich mir viele Erklärungen vorstellen«, erwiderte Sue aus einer spontanen Eingebung heraus. »Ich habe mich schon gefragt, ob wir Geralds Worte nicht zu wörtlich genommen haben.«
»Das begreife ich jetzt nicht.«
»Wenn man mit jemandem nicht allein sein will, dann bedeutet das nicht unbedingt, daß man sich physisch bedroht fühlt. Gerald könnte Max' Gesellschaft aus einer ganzen Reihe von Gründen
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