Inspector Barnaby 04 - Blutige Anfänger
abzuschütteln. Sie wollte wie um einen alten Freund trauern, sich mit dem Verlust abfinden und dadurch letztendlich Befreiung finden.
Als sich Brian dem rostigen Eisenzaun näherte, der die Quarry Cottages Nummer 13 umgab, fand er selbst in seiner äußerst angespannten Gemütslage einen Moment Zeit, sich über die merkwürdige Adresse zu wundern. Zum einen existierten nicht mehr als zwei dieser Cottages, und zum anderen waren sie weit mehr als einen olympischen Steinwurf vom nächsten Steinbruch entfernt.
Brian verharrte bewegungslos unter einem mit dicken Pulverschneepolstern beladenen Baum, der sich im Mondlicht fahl und farblos in die winterliche Kulisse fügte. Allmählich kroch die Kälte durch die Kleidung von Brian, der Schluckübungen ausführte in dem vergeblichen Versuch, das Pochen seines Herzens zu verlangsamen. Wie oft hatte er so an diesem Platz gestanden ... unter anderem auch in der Nacht von Geralds Ermordung ... aber erst jetzt war es zum ersten Mal zu einer Verabredung gekommen.
Brian schob die Manschette seines Hemds zurück und warf einen Blick auf seine russische Armbanduhr. Die Ziffern glühten in phosphoreszierendem Erbsgrün in der Dunkelheit. Das gute Stück zeigte jeweils die Zeit in London, Paris und New York an und war bis hundert Meter wasserdicht. Brian polierte das Uhrenglas liebevoll mit seinem Handschuh, riskierte dabei todesmutig eine Radonvergiftung und starrte auf die Zeiger. Die Gewißheit beruhigte ihn, daß er in jedweder Situation, ob nun beim Spaziergang über den Boulevard Haussman oder auf einem Schnorchelausflug im Hudson, von einem zufällig vorbeikommenden Passanten nicht vergeblich nach der Uhrzeit gefragt werden würde.
Brian fühlte plötzlich, daß seine Nasenspitze ganz taub vor Kälte wurde. Zweifellos war das Hemd, für das er sich letztendlich entschlossen hatte, nicht warm genug. Das konnte auch die von seiner Mutter aus irischer Wolle handgestrickte Weste nicht wettmachen. Und die Baseballkappe, durch deren rückwärtige Öffnung er seinen Zopf gesteckt hatte, hielt kaum den geringsten Luftzug ab.
Edie hatte neun Uhr gesagt. Bis dahin war noch eine Minute Zeit. Seit der Kindheit auf Pünktlichkeit gedrillt, widerstrebte es ihm, auch nur eine Sekunde früher zu klingeln.
Als Edie nach der Probe mit der Bitte zu ihm gekommen war, ihr beim Lernen des Textes behilflich zu sein, war seine begeisterte Hilfsbereitschaft anfänglich durch eine gewisse Skepsis gedämpft worden. In der Erwartung, den Rest der Bande kichernd und prustend hinter der Tür vorzufinden, hatte er sogar den Korridor überprüft, jedoch keine Menschenseele entdecken können. Völlig geschwunden war sein Argwohn jedoch erst dann, als Edie zum Abschied gebeten hatte: »Und sagen Sie bloß den anderen nichts.«
Dabei hatte ein kleiner, aufmüpfiger Wonneschauer Brians schlaksige Gestalt durchlaufen. Er war angenehm und beängstigend zugleich gewesen. Edies Bitte hatte ganz unvermittelt etwas von einer heimlichen Verschwörung angenommen und ihrer Lehrer-Schüler-Beziehung eine andere Dimension verliehen. Schon deshalb war Brian erleichtert und enttäuscht zugleich über Edies Zusatz gewesen: »Die lachen sonst nur.«
Es hatte allerdings nichts an der Tatsache verändert, daß er mit ihr allein sein würde. Was wiederum seine Phantasie hatte heißlaufen lassen.
Der Schrei einer Eule ertönte. Brian warf erneut einen Blick auf seine Uhr. Sie zeigte bereits eine halbe Minute nach neun! Dreißig kostbare Sekunden waren bereits vergeudet. Er suchte nach einer Tür im Zaun, konnte aber keine entdecken und kletterte deshalb über die oberste Eisenstange.
Im Licht einer nagelneuen Kutscherlampe zeichnete sich vor ihm eine mit allerlei Hausmüll verschandelte Grasfläche ab. Er erkannte einen rostigen Kühlschrank, den Aufsatz eines Büffets, zerbrochene Teedosen, einen Sessel ohne Polster mit einem Stapel Autoreifen. Neben der ausgedienten Sitzgelegenheit lag ein umgekipptes Bierfaß.
Als sich Brian vorsichtig näherte, hörte er plötzlich lautes Rasseln, und im nächsten Moment schoß ein Hund aus der Faßöffnung, sprang knurrend und zähnefletschend auf ihn zu. Brian schrie entsetzt auf und schoß wie eine Rakete durch die Luft. Der Hund zerrte mit wütendem Knurren an seiner Kette.
»Sabre!« Eine rechteckige Öffnung füllte sich mit gelbem Licht, worin Edie erschien. »Halt's Maul! Radaubruder!« Sie hielt die Tür weit auf und sah Brian
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