Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
wurde, hatte sie jemanden getroffen - Louise Fainlight! Und es war etwas Unangenehmes vorgefallen - nein, sie war unhöflich gewesen. Louise hatte sich einfach ganz normal und freundlich verhalten. Dennoch hatte Ann in ihr irgendwie eine Bedrohung gesehen. Warum?
Ann versuchte vorsichtig, den Nebelschleier in ihrem Kopf zu durchdringen. Sie schlug sich mit dem Handrücken gegen die Stirn und ächzte frustriert. Causton. Der Markt. Louise am Geldautomat. Sie selbst die Bank verlassend. Die Bank. Was hatte sie in ...
O Gott. Da fiel ihr alles wieder ein, strömte wie vergiftetes Wasser in ihr Bewusstsein. Sie richtete sich rasch auf, merkte kaum, wie sich alles drehte. Sie atmete hastig, keuchte beinahe vor Erregung und Angst, schwang die Beine aus dem Bett und griff nach ihrer Handtasche. Der braune Umschlag war noch da. Sie fummelte an der Lasche herum, zog die mit einem Gummi zusammengehaltenen Stapel von Banknoten heraus und starrte darauf. Diesmal fünf Riesen Mörderin morgen gleicher Ort gleiche Zeit.
Um die »gleiche Zeit«, also um Mitternacht, hatte sie bewusstlos im Bett gelegen, von Medikamenten außer Gefecht gesetzt. Aber das konnte er nicht wissen. Er würde glauben, dass sie sich ihm widersetzte. Was würde er tun? Einen weiteren Brief schicken? Anrufen und ihr drohen? Sollte sie vielleicht diese Nacht das Geld in den Carter's Wood bringen und es in der Abfalltonne deponieren?
Aber was wäre, wenn er nicht kam? Jemand anderer könnte es finden. Oder die Tonne würde geleert werden, und das Geld wäre verloren. Ann erinnerte sich an das demütigende Gespräch mit dem Bankdirektor. Das könnte sie nicht noch einmal ertragen.
Auf einer alten Nussbaumkommode auf der anderen Seite des Zimmers stand in einem silbernen Rahmen ein großes Foto von ihrem Vater. Sie wünschte sich innigst, dass er noch am Leben wäre. Er hätte mit Erpressern kurzen Prozess gemacht. Sie konnte sich vorstellen, wie er losrauschte, um denjenigen, wer auch immer es war, zur Rede zu stellen, wie er mit seinem Spazierstock herumfuchtelte und seinem Zorn mit kräftigen Flüchen freien Lauf ließ.
Ann musste zugeben, dass das töricht gewesen wäre. Hier hatte sie es nicht mit irgendeinem Landstreicher oder Faulenzer zu tun, den man mit donnernder Autorität einschüchtern konnte, sondern mit jemandem, der selbst über eine finstere Autorität verfügte, gegen die man nicht so leicht ankam.
Dieses immer stärker werdende Bewusstsein ihrer eigenen Hilflosigkeit löste in Ann Verärgerung aus, die sich rasch zu einem rasenden Zorn steigerte.
Sollte das etwa ihr Schicksal sein? Zitternd und lammfromm dazusitzen und auf Anweisungen zu warten wie eine erbärmliche viktorianische Dienstmagd. Und sobald diese erteilt wurden, sofort loszurennen, um sie zu erfüllen. Immer mehr von ihren kostbaren Besitztümern zu verkaufen, um die unerhörte Habgier eines unbekannten Verfolgers zu befriedigen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie würde es nicht ertragen.
Doch was war die Alternative? Zum ersten Mal zog sie nicht mit panischer Kopflosigkeit, sondern in ruhiger Besonnenheit in Erwägung, was passieren würde, wenn sie nicht zahlte.
Er würde es der Polizei erzählen. Ein anonymer Hinweis ohne Risiko für ihn selbst. Sie würden kommen und Fragen stellen. Sie konnte nicht lügen oder sich durchmogeln. Das war gegen ihre Natur und gegen alles, an das zu glauben man sie gelehrt hatte. Also würde sie ihnen die Wahrheit sagen.
Wie furchtbar könnten die Folgen sein? Würde man sie verhaften? Vielleicht. Vernehmen? Mit Sicherheit. Lionel wäre niedergeschmettert, und das Dorf hätte was wirklich Aufregendes, worüber man tratschen könnte. Doch das würde vorübergehen, und Ann stellte erstaunt fest, dass es sie nicht interessierte, wie Lionel die Sache treffen würde. Schließlich kümmerte er sich schon seit Jahren um Leute, die in Schwierigkeiten steckten, da sollte er in der Lage sein, auch mal mit ein paar privaten Problemen fertig zu werden.
Als ob sie bereits vernommen würde, fing Ann an, die grauenhaften Ereignisse noch einmal der Reihe nach durchzugehen. Die verschwundenen Ohrringe, Carlottas heftige Reaktion und anschließende Flucht, das Gerangel auf der Brücke. Der furchtbare Augenblick, als das Mädchen ins Wasser fiel. Wie sie selbst dann völlig außer sich am Flussufer entlanggerast war und gesucht hatte. Der Notruf.
Die Polizei würde ganz bestimmt erkennen, dass sie
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