Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
nicht die Sorte Mensch war, die einem anderen bewusst weh tat. Und Carlotta ist ... Ann schreckte vor dem Wort zurück. Carlotta war nicht gefunden worden. Vielleicht war sie sogar ans Ufer gekrochen, während Ann verzweifelt ihren Namen rief. Obwohl der Mond hell geschienen hatte, gab es durchaus dunkle Stellen, wo sie Deckung gefunden hätte.
Es war ein Unfall gewesen. Das war die Wahrheit, und sie würden ihr glauben müssen. Sie würde das Geld zur Bank zurückbringen, und ihr unbekannter Verfolger könnte sein Unheil anrichten.
Unausgeschlafen und stark bedrückt zog Louise sich an. Seit dem Streit am Freitagabend hatte sie ihren Bruder nicht mehr gesehen. Er hatte am nächsten Tag das Haus verlassen, bevor sie aufgestanden war, und nur eine knappe Notiz hinterlassen, er würde nach London fahren. Als sie kurz vor drei immer noch wach lag, hatte sie ihn zurückkommen hören. Normalerweise wäre sie aufgeblieben, um ihn zu fragen, wie der Tag gelaufen war, aber letzte Nacht hatte sie das nicht getan, weil sie Angst hatte, er würde wütend werden.
Louise, die gerade den Gürtel des erstbesten Kleides zumachte, das ihr in die Finger gefallen war, hielt plötzlich verblüfft inne, da ihr die Neuartigkeit dieser Überlegung bewusst wurde. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie Angst vor Valentine gehabt.
Die Verblüffung verwandelte sich langsam in einen stillen Zorn. Sie stand auf und lief zu dem Fenster, das auf die Dorfstraße hinausging. Beide Hände gegen die Scheibe gedrückt, starrte sie auf den Garten des alten Pfarrhauses, auf die riesige Zeder und die Wohnung über der Garage und spürte, wie ihr Zorn in Hass umschlug.
Warum hatte es statt Charlie Leathers nicht Jax sein können? Ein elender, nicht besonders angenehmer alter Mann hätte weitergelebt, und ein bösartiger junger Mann, gerade am Anfang seines schändlichen Lebens, wäre vernichtet worden. Ich hätte es selber tun können, dachte Louise, die in diesem Augenblick tatsächlich glaubte, zu einem Mord in der Lage zu sein. Natürlich nicht mit den eigenen Händen; sie hätte es nicht über sich gebracht, ihn anzufassen. Aber mal angenommen, es hätte eine Fernbedienung gegeben - einfach einen Knopf, den man drücken musste. Das wäre schon etwas ganz anderes gewesen.
Sie nahm die Hände von der Scheibe und betrachtete den verschwommenen Abdruck, den ihre Handflächen und Finger hinterlassen hatten; dann wischte sie mit dem Unterarm rasch über das Glas, um alle Spuren zu beseitigen. Könnte sie es doch nur so machen, mit genausowenig Skrupeln, wie sie eine Blattlaus auf den Rosen zerquetschte ...
»Was denkst du?«
»Oh!« Louise machte einen Satz vom Fenster weg. Dann ging sie rasch wieder zurück und stellte sich vor den verschmierten Händeabdruck, als ob man daran ihre böswilligen Gedanken ablesen könnte. »Du hast mich ... Ich hab dich nicht reinkommen hören.«
»Ich geh nur schnell duschen.« Val trug seine Fahrradkluft. Schwarze knielange Lycrashorts und ein gelbes Oberteil, beides triefend nass, klebten an seinen kräftigen Schultern und seinen muskulösen Oberschenkeln. Er sah sie ausdruckslos an. »Setz schon mal den Kaffee auf, Lou.«
Während sie in der Küche auf ihn wartete, versuchte Louise, tief und gleichmäßig durchzuatmen. Sie war entschlossen, sich nicht in einen Streit verwickeln zu lassen. Sie würde ganz ruhig sein und sich jeder Kritik enthalten. Es war sein Leben. Hauptsache, flehte Louise stumm, er schließt mich nicht davon aus.
Auf dem Tisch stand Kaffee, und es gab Brioches mit Butter und Schweizer Schwarzkirschmarmelade. Als Valentine hereinkam, setzte er sich sofort hin und schenkte sich Kaffee ein, ohne sie anzusehen, und Louise wusste, was kommen würde.
»Tut mir Leid wegen gestern.«
»Schon gut. Jeder hat...«
»Ich war sehr unfair. Du hast deinen Anteil hier immer reichlich bezahlt.«
»Schon gut, Val. Wir waren beide aufgeregt.«
»Aber«, Valentine stellte seine Tasse ab, »wir müssen tatsächlich miteinander reden.«
»Ja«, sagte Louise, die das Gefühl hatte, als würde ihr der Boden unterm Stuhl weggerissen, »das sehe ich ein.«
»Ich hab zwar im Zorn gesagt, du sollst ausziehen. Aber ich hab darüber nachgedacht und glaube immer noch, es könnte eine gute Idee sein.«
»Ja«, sagte Louise erneut fast ohne die Lippen zu verziehen. »Ich ... äh ... ich hab mir so ziemlich das Gleiche überlegt.
Weitere Kostenlose Bücher