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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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oder unter dem Gewicht von Geistern längst verstorbener Gäste. Alles Leben schien von hier geflohen zu sein. Zugegeben, man konnte kaum erwarten, daß es zur Winterszeit in einem Badeort zuging wie in einem Bienenstock. Aber über diesem Hotel schwebte eine solche Aura der Verlassenheit, daß Jury sich fragte, ob der Sommer etwas daran ändern oder ob nicht auch dann die Scharen bunt gekleideter Gäste, das Kreischen planschender Kinder, kurz: das ganze leuchtende, wimmelnde Strandleben nur eine fahle Erinnerung an längst vergangene Zeiten sein würde.
    Nur die großen offenstehenden Eingangstüren sagten ihm, daß das Haus über die Feiertage nicht geschlossen war. Und dann bemerkte er auch noch andere Lebenszeichen: laute Stimmen vom Ende der dunklen Vorhalle, und in einem Raum hinter der Rezeption gingen Schubladen auf und zu. Als er linker Hand durch eine halboffene Tür blickte, erkannte er die Gestalten von zwei oder drei älteren Leuten, die regungslos wie Ölgötzen dasaßen. Von einer der Gestalten sah er nur einen grauen, geflochtenen Zopf über einer Sessellehne liegen. Eine andere war wohl eingeschlafen, denn das Kinn war ihr auf die Brust gesunken. Und dann bemerkte er noch die huschende Bewegung einer Hand, die in einer Illustrierten blätterte.
    Ein Mädchen kam mit einem Stapel Aktendeckel aus dem Zimmer hinter der Rezeption und blieb überrascht stehen – sie hatte zu dieser Jahreszeit offenbar keinen neuen Gast mehr erwartet. Sie war gewiß die Jüngste im Haus, Ende Zwanzig und von einer vernachlässigten Schönheit. Wahrscheinlich dachte sie, daß es hier nicht der Mühe wert sei, zu Puder und Lippenstift zu greifen. Aber nun taxierte sie Jury ab und betrachtete sich dann kritisch in einem zerbrochenen Spiegel, der in einer Ecke hinter dem Empfangspult hing. Sie biß sich auf die Lippen und strich sich mit der freien Hand übers Haar. «Sie wollen ein Zimmer, ja?» Sie steckte eine Anmeldekarte in einen kleinen Klemmhefter und schob sie ihm hinüber. Ihr Lächeln war kokett, aber leider durch schlechte Zähne entstellt.
    Jury ließ ihr für eine Weile die Illusion, daß er ein Gast sei. «Nicht viel los um diese Jahreszeit, was?»
    Tiefe Verdrossenheit breitete sich auf ihrem Gesicht aus. «Allerdings. Und wenn schon mal Leute kommen, dann höchstens steinalte Rentner. Und alle haben sie irgendwelche Wehwehchen, aber Mrs. Krimp – das ist die Besitzerin – läßt sie hier billig wohnen.» Sie zuckte ihre mageren Schultern. «Warum auch nicht … sonst kommt ja sowieso keiner.» Sie nahm ihre Handtasche vom Pult, kramte einen Lippenstift hervor und begann sich zu schminken. Als nächstes griff sie zu Kamm und Nagellack, als wäre Jury nur gekommen, um sie zu einer flotten Tour durch sämtliche Pubs des Ortes abzuholen. Und für einen kleinen Schwatz war er ihr vorerst allemal willkommen. «Na ja, jedenfalls kann ich hier ein bißchen Geld verdienen, warum soll ich mich also beklagen? Ich bin zwar ausgebildete Stenotypistin, aber versuchen Sie mal, in dieser Gegend einen Job zu bekommen. Sie sind wohl nicht von hier, ich hör’s an Ihrer Aussprache.»
    «Ich bin aus London.»
    «London.» Er hätte ebensogut Atlantis sagen können. «Da war ich noch nie. Haben Sie ein Glück!»
    Jury lächelte. «Es hat seine Nachteile. Keine frische Seeluft zum Beispiel.»
    «Im Sommer ist es gar nicht mal so übel hier. In Shields gibt’s ein paar Läden, wo man ein bißchen Spaß haben kann.» An welche Art Spaß sie dabei dachte, überließ sie Jurys Vorstellungsvermögen. «Und dann geh ich manchmal nach Washington, in dieses neue Einkaufszentrum. Da gibt’s ’ne Disko, wo ab und zu Rockgruppen spielen, das ‹Silver Spur›. War’n Sie da schon mal?» Jury schüttelte den Kopf. «Mögen Sie keine Diskomusik? Heute abend spielen Kiss of Death .»
    «Wer?»
    «Ach, kommen Sie. Kiss of Death ! Eine der besten Gruppen, die’s gibt. So alt sind Sie nun auch wieder nicht.»
    «Leider doch.»
    Sie schmiegte ihr Kinn in ihre Hände und lächelte ihn an. «Das sieht man Ihnen aber nicht an. Mir sind sowieso …»
    … ältere Männer lieber. Er kannte die Leier. «Übrigens brauche ich kein Zimmer. Ich brauche eine Auskunft.»
    Sie reagierte, als hätte er ihr nach einer langjährigen Beziehung den Laufpaß gegeben. Unter der Schminke verhärtete sich ihr Gesicht. «Was für eine Auskunft?»
    Jury zog das Foto von Helen Minton hervor. «Diese Frau. Ich glaube, sie war einige Male hier. Erkennen Sie sie

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