Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
Er gab ihm die Tasse zurück. »Und irgendwann werden Sie sich auch merken, dass ich keinen Zucker nehme.«
Er fragte nach Miss Georgeson. Sie war füllig, um die Fünfzig und erinnerte ihn an eine Schulmensamamsell, mit der er mal eine Zeit lang ausgegangen war. Sie hatte das Videoband schon für ihn bereit liegen.
»Möchten Sie es sich hier ansehen?«, fragte sie.
Rebus schüttelte den Kopf. »Ich nehm es mit aufs Revier, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Na ja, in dem Fall müsste ich Ihnen eine Kopie ziehen...«
»Ich habe nicht vor, das Band zu verlieren, Miss Georgeson. Und ich werde es zurückbringen.«
Als er die Bank verließ, hielt er die Kassette fest in der Hand. Sah auf die Uhr, machte sich dann auf den Weg zur Waverley Station. Er setzte sich auf eine Bank in der Bahnhofshalle, trank einen Milchkaffee - oder caffe latte , wie der Verkäufer dazu sagte - und hielt die Augen offen. Die Kassette steckte in der Tasche seines Regenmantels; im Auto hätte er sie nie im Leben liegen lassen. Er blätterte die Abendzeitung durch. Kein Wort über Gary Oakes - darüber würde Stevens' Zeitung am nächsten Morgen exklusiv berichten, und Stevens hätte damit seinen Kritikern mit zwei mächtigen Stinkefingern geantwortet.
Ein Date mit dem Schicksal ...
Was, zum Teufel, bedeutete das? Hatte Oakes lediglich eine weitere falsche Fährte gelegt? Rebus hätte ihm diesbezüglich alles zugetraut. Er hatte Stevens, Archibald und ihn selbst so gekonnt angetäuscht, als wäre er George Best in seiner Glanzzeit und sie eine abgehalfterte Seniorenmannschaft.
Endlich entdeckte er sie. Am Spätnachmittag waren die Züge nach Edinburgh eher spärlich besetzt; der Verkehr floss praktisch ausschließlich in die andere Richtung. Sie schwamm gegen den dichten Menschenstrom, und er ging schon neben ihr her, noch bevor sie ihn überhaupt bemerkt hatte.
»Taxi, die Dame?«, fragte er.
Sie sah erst überrascht aus, dann verwirrt. »John«, sagte sie. »Was führt dich her?«
Anstelle einer Antwort holte er das Band heraus und hielt es ihr vor die Nase. »Ein Friedensangebot«, sagte er dann und führte sie zu seinem Wagen.
Sie saßen im CID-Büro. Auch da war wenig los. Die meisten Beamten waren schon heimgegangen. Die wenigen Verbliebenen versuchten, überfällige Berichte zu bewältigen oder Liegengelassenes aufzuarbeiten. Der Videomonitor stand in einer Ecke. Rebus hatte zwei Stühle herangezogen und zwei Becher Kaffee geholt. Janice sah gleichzeitig aufgeregt und ängstlich aus. Wieder fühlte er sich an Alan Archibald erinnert.
»Hör mal, Janice«, warnte er sie, »wenn's nicht er ist...«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn's nicht er ist, ist er's eben nicht. Ich werd's dir nicht übel nehmen.« Sie lächelte ihm kurz zu. Er schaltete das Gerät ein. Miss Georgeson hatte erklärt, die Kamera sei mit einem Bewegungssensor gekoppelt und zeichne erst dann auf, wenn jemand sich dem Automaten nähere. Vorhin an der Bank hatte sich Rebus den Automaten angesehen. Die Kamera war schräg darüber, hinter einem Fenster der Bank, angebracht. Als das erste Gesicht auf dem Band erschien, sahen Rebus und Janice es von oben. Laut digitaler Zeitanzeige war es 8.10 Uhr. Rebus nahm die Fernbedienung und schaltete den Schnellvorlauf ein.
»Uns geht's um ein Uhr vierzig«, erklärte er. Janice saß auf der Kante ihres Stuhls und umklammerte mit beiden Händen die Kaffeetasse.
So, dachte Rebus, hatte das Ganze angefangen: mit einem Überwachungsvideo, mit grobkörnigen Bildern. Am späteren Vormittag benutzten mehr Leute den Automaten. Da musste viel Band vorgespult werden. Mittägliche Schlangen bauten sich auf, aber gegen halb zwei wurde es etwas ruhiger.
Dann 13.40 Uhr.
»O mein Gott, das ist er«, sagte Janice. Sie hatte ihre Tasse auf den Boden gestellt, legte ihre Hände an die Wangen.
Rebus sah genau hin. Das Gesicht war nach unten auf die Tastatur des Automaten gerichtet. Dann wandte es sich ab, als starrte es die Straße entlang. Finger trommelten ungeduldig gegen den Bildschirm des Automaten. Die Karte wurde wieder herausgenommen, eine Hand zog die Banknoten aus dem Ausgabeschlitz. Dann war der Mann sofort weg, ohne auf eine Quittung zu warten. Der nächste Kunde rückte schon nach.
»Bist du dir sicher?«, fragte er.
Eine Träne rollte über Janice Wange. »Hundert Prozent.« Sie nickte bestätigend.
Rebus fand das schon schwerer zu beurteilen. Alles, was er zum Vergleich hatte, waren ein paar Fotos und die
Weitere Kostenlose Bücher