Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
»Mike, du bleibst.«
Lyn Fancourt brachte sie herein. Claudia Ricardo trug einen langen Patchworkmantel aus unregelmäßigen roten, gelben, grünen und schwarzen Flicken und darunter ein stark zerknittertes, weißes Leinenkleid, das ebenfalls bis zum Knöchel reichte. Ihre Füße steckten in geschnürten Sandalen mit hohen Keilabsätzen. Ihre wilde Haarpracht bildete einen starken Kontrast zu Maeve Tredowns glattem blonden Pagenkopf, der mit Hilfe von Haarspray wie ein frisch bemalter, glänzender Helm am Kopf lag. Maeve trug einen wadenlangen karierten Rock und dazu eine graue Jacke, zwei ziemlich schäbige Kleidungsstücke, die aussahen, als stammten sie von einem Wohltätigkeitsbasar. Als die beiden Frauen den Mund aufmachten, war Wexford wie vom Donner gerührt. Und das lag nicht an ihrem äußerlichen Unterschied. Ihre Sprechweise und ihr Tonfall wiesen eine erstaunliche Ähnlichkeit auf. Mit geschlossenen Augen hätte man nicht sagen können, ob es Claudias Stimme war oder Maeves. Nur der Inhalt ihrer Sätze identifizierte sie. Trotz ihrer enormen äußerlichen Unterschiede schienen sie in gewisser Weise denselben Typ zu verkörpern. Hatte Tredown deshalb erst die eine und dann die andere geheiratet? Oder hatte er nach dem Verlust, beziehungsweise der bewussten Trennung von Claudia, in Maeve deren Pendant gesucht?
Sie seien gekommen, um ihm etwas mitzuteilen, sagte Maeve, was sie zuvor zu erwähnen »versäumt« hätten. »Bei meinem Gespräch mit diesem Mädchen, das Mr. Borodin aufgesucht hat. Sie hat uns gerade eben auch hier heraufgebracht.«
»Und Sie wollten wissen, ob es wahr ist, dass wir im Keller von Mr. Grimbles Haus eine Leiche gefunden haben. Und ob es ein Mann oder eine Frau ist.«
»Hast du das wirklich gefragt, Cee? Du bist einfach schrecklich.« Maeve klang wie ein Teenager.
»Niemand ist stets Herr seiner Bemerkungen«, meinte Claudia kichernd. »Natürlich wollte ich es unbedingt wissen. Wer möchte das nicht, bei den vielen Leichen nebenan. Ich habe mir überlegt, ob sie vielleicht an irgendeinem Sexritual beteiligt gewesen sind.«
»Wozu sind Sie hergekommen? Was wollten Sie uns mitteilen?«, fragte Burden. Seine gepresste Stimme verriet Wexford, dass er damit seinem äußersten Missfallen Ausdruck verlieh.
Maeve betrachtete ihn, als hätte sie eben erst bemerkt, dass noch ein zweiter Mann im Zimmer war. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder an Sie. Nicht wahr, Sie sind mit ihm zusammen bei uns zu Hause gewesen? Dürfen Sie mir überhaupt Fragen stellen?« Sie deutete mit spitzem Finger auf Wexford. »Er ist doch der Boss, oder?«
Weder Wexford noch Burden gingen auf ihre bohrenden Fragen ein, während Claudia kichernd losprustete. »Falls Sie uns etwas mitzuteilen haben, dann tun Sie es bitte. Unsere Zeit ist begrenzt.«
»Ach, wirklich?« Claudia zog ein ungläubiges Gesicht. »Na ja, wenn Sie das sagen. Was wollten Sie wissen? Ach ja, warum wir hier sind, was wir Ihnen erzählen wollen. Eigentlich zwei Dinge. Erstens, dass Mr. Chadwick – seinen Vornamen kenne ich nicht – ganz dick mit Louise Axall befreundet war. Immer wenn ihr – also, ihr Ehemann ist er ja nicht – ihr Liebhaber weg war, ist er bei ihr in der Wohnung gewesen.«
»Miss Ricardo, darf ich Sie hier unterbrechen?«, warf Wexford ein. »Miss Axall wohnt erst seit vier Jahren in diesem Bezirk, und unsere Ermittlungen gelten nicht mehr Douglas Chadwick. Er ist vor zwei Jahren gestorben.«
Auf Maeve Tredowns Gesicht legte sich der Ausdruck eines Menschen, dem eine ähnlich gewaltige Offenbarung zuteil wurde wie einst Paulus auf der Straße nach Damaskus. »Douglas! So hieß er. Das war mir völlig entfallen.«
»Und die zweite Information, Miss Ricardo?«
»Ja, also, wo war ich stehen geblieben? Wo war ich, Em?«
»Du wolltest ihnen sagen, dass wir gesehen haben, wie Irene McNeil, der alte Drache, nach dem Tod des alten Grimble sein Haus betreten hat.«
»Ganz genau. Sie und dieser zurückgebliebene Junge und die Kumpels von Grimble – das war ein ständiges Kommen und Gehen. Irene ist mit Sicherheit die neugierigste Alte im ganzen Königreich. Kaum war die Beerdigung vorbei, war sie schon drinnen. Sie hat ja damals direkt gegenüber gewohnt. Wir haben sie immer wieder dort drinnen verschwinden gesehen. Stimmt’s, Em?«
»Absolut, Cee. Und Sachen hat die herausgeschleppt. Ihr Mann auch. Der Kerl hat in der ganzen Gegend das Wild dezimiert. Was sich rührte, wurde erschossen. Wirklich eine
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