Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Schande.«
»Vielen Dank, Mrs. Tredown, Miss Ricardo«, meinte Wexford absolut ruhig, griff zum Telefon und sagte hinein: »Bitten Sie DC Fancourt herauf.«
Die beiden »Schwiegerweiber« begannen leise miteinander zu plaudern. Ab und zu ertönten abwechselnd plötzlich schallendes Gelächter und kleine spitze Schreie. Aus den Gesprächsfetzen reimte sich Wexford zusammen, dass Claudia Maeve einen Witz erzählte, worin es um Fellatio und eine Banane ging. Seufzend sagte er: »Wir würden uns gerne mit Mr. Tredown unterhalten. Ginge es morgen Vormittag? Um neun Uhr?«
»Das ist sehr früh«, kicherte Claudia, als hätte er einen unanständigen Vorschlag gemacht. » Sehr früh. Vielleicht liege ich da noch im Bett.«
»Ach, Cee, es wäre besser, wenn wir einverstanden sind, sonst lässt er uns doch keine Ruhe.«
»Danke«, sagte Wexford, als Lyn Fancourt eintrat. »Bitte, bringen Sie Mrs. Tredown und Miss Ricardo hinaus.«
Kichernd gingen beide ab. Burden meinte, sie seien wie zwei Schulmädchen, die sich einen Spaß erlaubt hatten, ohne dass es ihnen tatsächlich gelungen wäre, ihren Lehrer aus der Fassung zu bringen.
»Ich weiß nicht. Das Ganze ist ein bisschen unheimlicher. Die beiden erinnern mich mehr an ein restlos durchtriebenes Pärchen bei einem Hexensabbat.«
»Sie wollten uns hauptsächlich auf die Nerven gehen. Wahrscheinlich haben sie nicht genug zu tun. Vielleicht schickt Tredown sie aus dem Haus, damit er ungestört arbeiten kann. Andererseits – war das Ganze vielleicht als Ablenkungsmanöver gedacht?«
»Wovon sollte es ablenken, Mike?«
»Na, eindeutig von etwas, was sie uns verheimlichen wollen. Eines haben sie uns trotzdem verraten. Ich weiß, dass es dir aufgefallen ist. Ich konnte es an deinem angewiderten Blick erkennen, den du plötzlich hattest.«
Wexford nickte. »Meinst du ihren Hinweis auf ›diesen zurückgebliebenen Jungen‹, wie Claudia ihn so charmant genannt hat? Damit ist eindeutig Charlie Cummings gemeint. Darauf hätten wir auch selbst kommen können, Mike. Handelt es sich bei der Kellerleiche um Charlie Cummings?«
»Er ist drei Jahre vor dem Tod des Mannes aus dem Keller verschwunden.«
»Selbst dann wäre es möglich«, erwiderte Wexford.
Doris Lomax, die ehemalige Nachbarin von Charlie Cummings und dessen Mutter, war inzwischen eine hochbetagte Frau. Im Laufe der letzten elf Jahre hatte sie allmählich ihr Sehvermögen eingebüßt und galt jetzt amtlich als blind. Hannah Goldsmith, die im Umgang mit Männern, besonders mit aufmüpfigen jungen Kerlen, gnadenlos hart sein konnte, zeigte sich gegenüber ihren eigenen Geschlechtsgenossinnen verständnisvoll. Ein besonderes Maß an Umsicht und Sympathie brachte sie alten Frauen entgegen, die sie als Opfer eines schweren Lebens und männlicher Unterdrückung betrachtete. Mit Doris Lomax unterhielt sie sich mit einer Stimme, die Wexford kaum wiedererkannt hätte, so sanft klang sie.
In dem kleinen, vollgestopften Zimmer, in dem sie saßen, war es unerträglich heiß, denn Mrs. Lomax hatte trotz des für die Jahreszeit milden Tages die Gasheizung voll aufgedreht. Die Fenster sahen aus, als wären sie nie geöffnet worden und würden aus Mangel an Bewegung inzwischen klemmen. Hannah ließ sich nicht anmerken, dass sie sich unwohl fühlte, obwohl sie allmählich unter den Achseln zu schwitzen begann, ein körperliches Signal, das sie nicht ausstehen konnte.
»Meine Liebe, ist Ihnen vielleicht kalt?« Das war fast der erste Satz von Mrs. Lomax.
»Kein bisschen, Mrs. Lomax, danke. Also, soweit ich weiß, können Sie nicht mehr Zeitung lesen. Meiner Ansicht nach versäumen Sie nicht viel, wenn ich das so sagen darf. Andererseits bedeutet es, dass Sie nicht in der Lage waren, das Foto von Charlie und der Kleidung zu sehen, die er getragen hat. Stimmt das?«
»Ich habe eine Pflegerin, meine Liebe. Sie kommt oft vorbei. Sie ist ein echter Schatz und liest mir kleine Artikel aus der Lokalzeitung vor, aber den Artikel hat sie nie gelesen. Was hat er getragen? Was haben Sie gesagt?«
»Ein T-Shirt, Mrs. Lomax.« Hannah erkannte genau, dassMrs. Lomax keine Ahnung hatte, was das war. »Ein Dings … ein Kleidungsstück. So ähnlich wie ein Pullover, aber aus Baumwolle. Es ist weiß, mit einem aufgedruckten Skorpion.«
»Ein was, meine Liebe?«
Es erwies sich als schwierig, einen Skorpion zu beschreiben. »Ein schwarzes Ding«, fing Hannah an. Handelte es sich um ein Reptil? Ein Insekt? Ein Spinnentier? »Etwas Ähnliches wie
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