Inspektor Jury lichtet den Nebel
Frau und erklärte Jury: «Leonard Matching, Staatsanwalt. Er will für Brixton ins Parlament.» Nach dem wenigen, was Jury über den Maulhelden Matching gehört hatte, bezweifelte er stark, daß Brixton ihn im Parlament haben wollte. Daß Jury und Wiggins hier waren, verdankten sie der Tatsache, daß ein Assistant Commissioner mit Chief Superintendent Racer befreundet war und auf dem Dienstweg um Amtshilfe gebeten hatte, woraufhin Racer Jury ruckzuck in die Pampas geschickt hatte. Zu schade (so mochte Racer denken), daß es statt Belfast nur der alte Marktflecken Dorchester war, schlappe einhundertsechzig Meilen von London entfernt. Jury konnte sich vorstellen, wie erbaut Inspector Neal wohl darüber war, daß man ihm jemanden vor die Nase gesetzt hatte, doch Neal war zu fair, um Jury deswegen das Leben schwerzumachen. Nicht jeder wäre so großmütig gewesen.
«… und keine zwei honorigen Verwandten kriegt der zusammen», sagte Beth Riley gerade in erschreckend bissigem Ton. Das Kind war tot. Was konnte da der gesellschaftliche Status irgendwelcher Verwandten für eine Rolle spielen?
«Schon gut, schon gut, Herzchen», sagte Riley, damit sie endlich den Mund hielt. Daß der leibliche Vater die herzlose Stiefmutter tröstete – Jury konnte es einfach nicht begreifen. Irgendwie paßten die beiden überhaupt nicht zusammen. Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihm unter die Nase zu reiben, daß sie gebildeter war als er. Jury ließ sie reden und musterte das Zimmer. Auf dem Kaminsims standen Fotos, die wohl ein harmonisches Familienleben belegen sollten, aber dennoch wirkte das Ganze ziemlich frostig. Außerdem hingen ein Mahagoniwappen, wie es Touristen auf der Suche nach ihren Wurzeln immer wieder aufzustöbern scheinen, und Diplome an der Wand, eins davon mit Siegel.
«Tut mir leid, daß ich Sie in Ihrem Kummer belästigen muß», sagte Jury zu Mrs. Riley. Sein Ton war eisig. «Aber wir haben da ein paar Fragen.»
Beth Riley lehnte sich zurück, sagte kein Wort und überließ es ihrem Mann zu antworten. Schließlich, so erinnerte sie Jury, war Simon Alberts Sohn gewesen.
«Ist Ihnen seit Ihrer Unterhaltung mit Inspector Neal noch etwas eingefallen, Mr. Riley? Freunde Ihres Sohnes? Oder Feinde?» Wie erwartet, hatte Simon keine Feinde gehabt – ein Zwölfjähriger und Feinde? Und Mr. Rileys Aussage entsprach den Ermittlungsergebnissen der Polizei von Dorset: Simon war bei seinen Klassenkameraden nicht außergewöhnlich beliebt gewesen, doch gehaßt hatte ihn auch keiner. Außerdem ging eigentlich sowieso niemand davon aus, daß ein Schuljunge ein Messer von der Größe der Tatwaffe mit sich herumtrug.
Inspector Neal hatte, als er «Psychopath» sagte, womöglich noch besorgter dreingeschaut als Simons Vater. Aber wie sonst sollte man jemanden bezeichnen, der so einen Mord begangen hatte? Superintendent, Sie wissen, was das heißt. Ein Kindsmörder. In Dorchester.
Und Jury hatte bei sich gedacht, in London hätte ich so was auch nicht gern.
«… Psychopath», wiederholte Albert Riley. Er wischte sich die Augen mit einem oft benutzten Taschentuch. Jury dachte mittlerweile anders über ihn; der Mann mußte wohl einfach arbeiten, sonst würde er vermutlich vollkommen zusammenbrechen. Und seine Frau war ihm ja nicht gerade ein großer Trost.
Die Person, die Simon auf dem Gewissen hatte, schätzte Jury allerdings anders ein als Neal und Riley. Ein einziger Stich in den Rücken, sauber, präzise, schnell – nicht ein blindwütiges Drauflosstechen, wie es für einen Mörder typisch wäre, der blutrünstig kleinen Jungs nachstellte. Und es gab keine Anzeichen sexuellen Mißbrauchs. Das genügte Jury, um zu der Schlußfolgerung zu kommen, daß der Mord geplant gewesen war, daß der Mörder es auf Simon und auf niemand anders abgesehen hatte. Neals Bericht zufolge hatten Simons Klassenkameraden – mit denen er kaum Kontakt hatte – nicht gewußt, daß er sich regelmäßig in die Gasse verkroch, um zu rauchen und sich Pornohefte anzusehen. Vielleicht wurden ja die falschen Fragen gestellt. Möglicherweise hatte Simon doch einen Feind gehabt. Oder das Ehepaar Riley. Diese Überlegungen stellte Jury jetzt jedoch nicht zur Debatte. Er sagte nur, er glaube nicht, daß ein Geisteskranker der Mörder sei.
Riley sah ihn verwundert an. «Aber wer sonst könnte es getan haben? Sie scheinen davon auszugehen, daß jemand ganz gezielt Simon ermorden wollte. Aber warum?»
«Dafür könnte es alle möglichen Gründe gegeben
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