Inspektor Jury schläft außer Haus
nicht einmal, ob ich in dem Speiseraum war», sagte Lorraine.
Bicester-Strachan hob den weißhaarigen Kopf. «Ich saß mit dem Pfarrer – Mr. Smith – bei einem Damespiel. Was meine Frau getrieben hat, weiß ich nicht», fügte er trocken hinzu.
«Ich saß eine Weile bei Oliver – Oliver Darrington – am Tisch und später bei Melrose Plant, bis ich schließlich seinen Snobismus nicht mehr ertragen konnte –»
«Wie ungerecht, Lorraine. Wenn du Plant für einen Snob hältst, dann verstehst du diesen Mann überhaupt nicht.»
Sie hatte ihr Glas wieder aufgefüllt und stand nun neben dem Kamin; ihre Hand lag auf dem Sims, und ihr Fuß ruhte auf dem Kamingitter. «Plant ist ein Anachronismus, wie man ihn nur in England findet. Es fehlt nur noch das Monokel, dann wäre er perfekt.»
«Aber wie erklären Sie sich», fragte Jury, «daß jemand mit einem so ausgeprägten Statusdenken auf seinen größten Trumpf verzichtet? Ich meine, den Adelstitel?»
Bicester-Strachan gluckste beifällig. «Was sagst du nun, Lorraine?»
Sie beharrte jedoch auf ihrer Position. «Melrose Plant gehört zu der Sorte, die so etwas macht, nur um sich von seinen Schwert und Halskrause tragenden Vorfahren zu unterscheiden.»
«Ich habe diesen Zug ziemlich bewundert», sagte Bicester-Strachan und blickte lächelnd auf das Schachbrett, als säße Plant ihm gegenüber.
«Plant ist ein Mann von Charakter, Plant ist Plant. Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat, Inspektor? Er meinte, er habe bei den Sitzungen des Oberhauses immer das Gefühl, sich in einer Pinguinkolonie zu befinden.»
Jury lächelte, während Lorraine das überhaupt nicht komisch zu finden schien. «Es beweist nur, daß ich recht habe», sagte sie.
Jury bemerkte, daß ihr das Blut ins Gesicht gestiegen war. Wenn eine Frau so über einen Mann herzog, bedeutete das meistens, daß sie keinen Erfolg bei ihm gehabt hatte. «Können Sie sich noch erinnern, wann Sie mit Mr. Plant zusammensaßen?»
«Das ist praktisch unmöglich; die Leute wechselten dauernd die Tische, und ich habe die einzelnen nicht im Auge behalten. Es gab nur zwei ruhende Pole, meinen Mann und den Pfarrer, Hochwürden Denzil Smith. Der ist ein Fall für sich, eine wandelnde Trivialitätensammlung; er weiß einfach alles über Long Piddleton und die Gasthäuser der Umgebung, und er redet einem ständig die Ohren voll mit diesen Geschichten – wie viele Gespenster in ihnen umgehen oder wie viele geheime Verstecke sie haben –»
«Denzil ist ein Freund von mir, Lorraine», sagte Bicester-Strachan, die Augen auf das Schachbrett geheftet. Nachdenklich machte er einen Zug mit seinem Läufer.
«An dem Abend, als der zweite Mord passierte, waren Sie da auch in der Hammerschmiede?»
«Ganz kurz nur. Eine halbe Stunde ungefähr», sagte Lorraine.
«Und haben Sie mit dem Opfer gesprochen?»
«Nein, natürlich nicht», sagte sie. «Wer diese Verbrechen begangen hat, muß einen ausgeprägten Sinn für schwarzen Humor haben, finden Sie nicht?»
«Gewöhnlich bringt man Leute nicht zum Spaß um. Sie hatten also keinen dieser beiden Männer schon einmal gesehen, Mr. Bicester-Strachan?»
Er schüttelte den Kopf. «Soviel ich weiß, kannte sie niemand in Long Piddleton. Sie waren absolut fremd hier.»
«Sie haben früher in London gelebt?» Jury vergegenwärtigte sich Pratts Bericht. «In Hampstead, soviel ich mich erinnere?»
«Sie wissen ja gut Bescheid über uns, Inspektor», sagte Lorraine.
Etwas in ihrer Stimme ließ ihn zögern. Die Pause, die daraufhin entstand, mußte ihr sehr vielsagend vorgekommen sein. «Sollte ich etwa einen Anwalt hinzuziehen?»
«Meinen Sie denn, Sie könnten einen gebrauchen?»
Lorraine Bicester-Strachan setzte ihr Glas mit einem völlig unnötigen Kraftaufwand ab und verschränkte die Arme fest über der Brust, als wolle sie einen Angriff auf ihre Ehre und Intimsphäre abwehren. Nervös wippte sie mit dem rechten Bein in dem schwarzglänzenden Lederstiefel.
«Wir sind hierhergezogen, weil es so ein pittoreskes kleines Dorf ist, das gerade erst entdeckt wurde – von Schriftstellern, Künstlern und so weiter. Nach Cotswolds geht inzwischen ja keiner mehr. Diese Märchenwald-Ästhetik ist wohl etwas passe. Ich habe zwei Hobbies – ich reite und male.» Sie machte eine ausholende Armbewegung, die vier Wände voll miserabler Bilder einschloß. Es waren schlecht gemalte Seestücke mit tosenden Wellen, in denen knorrige Äste herumwirbelten. Sie hatte nicht einmal ein Auge für die
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