Inspektor Jury spielt Domino
oder?» Julians aschfahles Gesicht beantwortete seine Frage. «Das ist auch der Grund, warum Sie ihre wahre Identität nicht verraten wollten, nicht wahr?»
«Ich hätte es getan. Ich war drauf und dran, dem Colonel die ganze erbärmliche Geschichte zu erzählen –»
«Nur brauchten Sie es nicht zu tun, so wie die Dinge sich entwickelten.»
Es entstand ein langes Schweigen. In dem schummrigen Licht sah Jury, wie eine Träne langsam über Julians Gesicht rollte. Er sah zum Porträt seiner Mutter auf. «Ich habe gehört, daß sie nicht aus dem Auto rauskommen konnte. Und dieser gottverfluchte Rolfe war betrunken, als sie abfuhren. Ich frage mich, ob ich sie hätte retten können, wenn ich dabeigewesen wäre?»
Jury sah an Julian vorbei, ohne das Gemälde anzusehen. Er sah zum Fenster, in den unerbittlichen Nebel hinaus, der vorbeidriftete und sich ständig veränderte, als würde er nach einer passenden Form suchen und dabei gespenstisch an das Fenster pochen. «Nein», sagte er nur.
6
«Ein Verbrechen aus Leidenschaft?» sagte Melrose Plant und schob seine Augenbrauen hoch, als wären es Flügel, auf denen sein belustigtes Gesicht vor lauter Überraschung gleich in den grauen Himmel fliegen würde. «Und Julian Crael?»
«Dann ist er also gar nicht – dieser Eisberg, für den wir ihn hielten, oder?»
Mit den Rücken an die Mauer gelehnt, standen sie auf der Molen-Promenade und sahen zum «Fuchs» hin. Jury beobachtete, wie ein Fenster aufging und zwei Pulloverarme – vermutlich Kittys – einen Wassereimer ausschütteten. Das Leben geht weiter, dachte Jury. «Sie haben ihn eigentlich nie gemocht?»
«Nein, wohl nicht. Was geschieht jetzt mit ihm?»
«Im Augenblick noch gar nichts. Ich muß erst die anderen Dinge klären. Ein fünfzehn Jahre alter Mord aus Leidenschaft …» Jury zuckte mit den Schultern.
«Es muß wirklich fürchterlich sein, wenn man so vernarrt ist in eine Frau, daß man jede Perspektive verliert.»
Jury lächelte über Plants Art, sich auszudrücken. «Gewalt ist ihm schon zuzutrauen. Aber nicht unbedingt vorsätzliche Gewalt.»
«Sie verteidigen ihn ja wirklich. Aber wer ist es dann, der oder die über Leichen geht, um an das Vermögen der Craels zu kommen?»
«Ich weiß es noch nicht.» Jury beobachtete, wie ein Kormoran auf Frühstückssuche ging. «Sagen Sie, Mr. Plant, was halten Sie eigentlich von Lily Siddons?»
«Von Lily Siddons? Ich weiß nicht. Ich bin kaum mit ihr in Berührung gekommen. Nur zwei- oder dreimal vielleicht. Ich muß zugeben, sie ist eine faszinierende Frau. Sie hat etwas von einem Chamäleon. Wenn man sie so mit ihrem Kopftuch im Café sieht, wie sie den Brotteig knetet, fällt sie einem nicht weiter auf. Als ich sie dann aber heute sah, ich muß schon sagen …» Melrose pfiff lautlos durch die Zähne. «Hoch zu Roß sah sie aus, wie …» Er schien nach den richtigen Worten zu suchen.
«Als wäre sie mit einem Adelstitel geboren.»
«Jetzt, wo Sie es sagen, ja.»
«Ich glaube, das wurde sie auch.» Melrose starrte ihn an.
«Erinnern Sie sich an Rolfe, den anderen Sohn, der von Lady Margaret weggeschleppt wurde? Ich glaube, Rolfe war ihr Vater. Ich möchte auch behaupten, daß Lady Margaret sich große Mühe gegeben hat, damit ihr Mann nichts davon erfuhr. Sie können sich vorstellen, wie er sich seiner Enkelin gegenüber verhalten hätte – daß sie die Kleine der Köchin war, hätte keine Rolle mehr gespielt. Also entführte ihn die Mutter nach Italien.»
«Großer Gott. Aber was ist mit Lily, weiß sie es?» fragte Melrose.
«Offenbar nicht. Aber es könnte der Grund sein, warum jemand sie töten wollte.»
«Beispielsweise Julian Crael.»
«Oder Maud Brixenham oder Adrian Rees. Es würde mich nicht wundern, wenn er als Maler, mit einem Blick für solche Dinge, das schon lange entdeckt hätte.»
«Aber wie dumm von ihm! Warum nicht küssen statt killen – er hätte sie doch heiraten können, um an die Beute ranzukommen?»
«Lily hätte damit einverstanden sein müssen. Und Männer scheinen sie seltsamerweise kaltzulassen.»
«Aber warum wurde Olive Manning dann getötet? Oder wußte sie, daß Lily eine Crael ist?»
«Ich glaube, ja. Olive war die Vertraute von Lady Margaret, und ich vermute, daß ihr nichts daran lag, dieses Geheimnis auszuplaudern.»
Plant schüttelte den Kopf. «Die Rechnung geht nicht auf.»
«Vorläufig noch nicht, aber sie wird. Gemma hatte, nachdem sie von Julian abserviert worden war, um so mehr Grund, diesen
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