Inspektor Morse 07 - Huete Dich vor Maskeraden
was er gedacht hat. Aber Sie, Mr. Binyon, möchte ich doch nachdrücklich auffordern, Ihre Gedanken und Ansichten für sich zu behalten, bis ich Sie danach frage.»
Die letzten Worte hatte Morse mit kühler Verachtung gesprochen, und Sarah Jonstone, die in Hörweite am Empfang Dienst tat und alles mitbekommen hatte, fühlte sich unangenehm berührt, ja, geradezu verschreckt durch sein Auftreten. Aber die Gerüchte besagten, daß die Leiche, die im Zimmer Nummer drei gefunden worden war, gräßliche Verstümmelungen davongetragen habe, und so war sie andererseits auch erleichtert, daß man der Schwere des Verbrechens entsprechend die Untersuchung des Falles einem Mann übertragen hatte, der ganz offenbar von seiner Autorität Gebrauch zu machen wußte. Nichtsdestotrotz wirkte seine Haltung auf sie verstörend; der Blick seiner harten, sie unnachgiebig musternden Augen erinnerte sie an gewisse fanatische Politiker wie Benn, Joseph oder auch Powell, die sie des öfteren im Fernsehen gesehen hatte. Ihm und diesen Männern schien die Eigenschaft gemein, daß alles, was direkt um sie herum war, nur ihr eher beiläufiges Interesse erregte, während ihre wahre Aufmerksamkeit auf einen fernen, imaginären Horizont gerichtet war, der sich nur ihnen erschloß. Doch war dies nur die halbe Wahrheit. Denn nachdem sich sein Ärger gelegt und er sich wieder beruhigt hatte, war er mit einem kleinen, maliziösen Lächeln auf sie zugetreten und hatte ihr so unverfroren in die Augen geblickt, daß sie einen Moment lang fest geglaubt hatte, er werde ihr gleich zuzwinkern — auch dies war eine beunruhigende Erfahrung, wenn auch nicht ganz und gar unangenehm.
Zum Glück wurde sie in diesem Moment abgelenkt. Ein buckliger Mann hatte das Foyer betreten und sah sich suchend um. Eine Zigarette zwischen den dünnen Lippen seines misanthropisch verzogenen Mundes, die wenigen Strähnen seines glatten, zu langen Haares, quer an den gelben Schädel geklatscht, hätte man es niemandem verübeln können, wenn er ihn für einen nicht besonders erfolgreichen Leichenbestatter hielt. Der Mann war jedoch der Gerichtsmediziner. Er und Morse kannten sich seit über fünfzehn Jahren und empfanden wechselseitige Hochachtung vor dem Können des anderen. Ein Merkmal ihrer höchst ungewöhnlichen Beziehung war, daß Morse den Pathologen seit Jahren beim Vornamen nannte, während umgekehrt dieser den Chief Inspector stets mit Nachnamen ansprach.
«Ich bin schon seit einer Stunde hier», wandte sich der Gerichtsmediziner an Morse.
«Soll ich dir jetzt dafür einen Orden verleihen, oder was?» antwortete Morse nicht besonders freundlich.
«Ist das dein Fall?»
«Ja.»
«Na, dann sieh dir die Geschichte mal an. Ich komme, wenn du mich brauchst.»
Morse folgte Binyon, Phillips und Lewis hinüber zur Dependance. Auf halbem Weg blieb er plötzlich stehen und starrte beinahe ehrfürchtig zu dem gewaltigen Kran empor, der zwischen dem Hotel und der Dependance aufgerichtet war und dessen Ausleger sich dreißig Meter über dem Boden wie ein riesiger, sei es zum Segen, sei es zum Fluch, Arm über die beiden darunter liegenden Gebäude reckte.
«Also da würden mich keine zehn Pferde raufbringen, Lewis», sagte er, während seine Augen wie gebannt an der winzigen, in luftiger Höhe hängenden Metallkabine hingen, von der aus, wie er annahm, der Kranführer seine Tätigkeit ausübte.
«Ist alles halb so wild», sagte Lewis. «Man kann den Kran auch von unten steuern.» Er deutete auf eine Plattform knapp zwei Meter über dem Boden, durch deren eiserne Bodenplatten verschiedene Schalthebel nach oben ragten. Morse nickte, vermied aber einen erneuten Blick auf die Kabine und die durchbrochene Eisenkonstruktion des Turms, der sich schwarz gegen den noch ein wenig hellen Abendhimmel abzeichnete.
Sie betraten die Dependance durch den Seiteneingang. Morse schritt den erst vor kurzem mit Teppichboden ausgelegten Flur hinunter, der nach etwa zehn Metern vor einer Bretterwand endete, und spähte durch die Latten hindurch in einen offenbar noch im Umbau befindlichen Raum, der sich in absehbarer Zeit wohl in eine Eingangshalle verwandeln würde. Der Fußboden war offenbar gerade erst vor Weihnachten zementiert worden; überall waren noch auf je zwei Backsteinen ruhende Planken ausgelegt. Der Staub von der Baustelle war durch die provisorische Absperrung gedrungen und hatte sich hinter der Bretterwand als dünne Schicht auf dem Teppichboden abgelagert. An keiner Stelle war
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