Instinkt
immer blau verfärbt und geschwollen und ruckte hektisch, als mühte Grier sich verzweifelt, etwas bei sich zu behalten. Die Gesichtsausdrücke der anderen Beamten – entweder stoisch, angespannt, schwindelig oder völlig fertig –, erzählten alle dieselbe Geschichte. Was immer die Polizisten soeben erlebt hatten, es hatte jeden mitgenommen, DC Rodriguez standen sogar Tränen in den Augen.
»Was haben wir?«, fragte MacLeod, und sein sanfter Edinburgher Akzent nahm dem Ganzen ein wenig die Spannung. MacLeod umgab eine Aura ruhiger Rechtschaffenheit, die auf Menschen ebenso anziehend wirkte wie seine unerschütterliche Gelassenheit, die seinen Bierbauch, sein schütteres graues Haar und seinen aus der Mode gekommenen Schnauzer vergessen machten und ihn als die natürliche Führungspersönlichkeit erscheinen ließen. Einmal mehr war Tina froh, für ihn zu arbeiten.
»Wir haben noch mehr Zeug gefunden«, flüsterte Grier und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, als wolle er die Erinnerung daran wegwischen. »Filme.«
»Was für Filme?«, wollte Tina wissen.
»Aufnahmen von der Ermordung zweier Opfer. Vermutlich hat er es selbst gefilmt.« Grier hielt inne. »Genauestens dokumentiert.«
»Mehr als das«, ergänzte DS Simon Tilley, ein wuchtiger Polizist, Vater zweier Kinder, mit einem Lachen wie eine Tuba, den so schnell nichts aus der Bahn warf. »Das ist das Scheußlichste, was ich je gesehen habe.«
MacLeod atmete tief durch. Er war selbst Vater und hatte nicht die geringste Lust auf das, was jetzt auf ihn zukam, aber er war zu professionell, um sich dadurch beeinflussen zu lassen. »Uns bleibt wohl keine Wahl.«
Er wandte sich Tina zu, sein Blick bedeutete ihr, sie müsse nicht hierbleiben, wenn sie nicht wollte. Tina bemerkte, dass auch Grier und Rodriguez sie anschauten, als würden sie ihr dringend raten hinauszugehen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, MacLeod«, erwiderte sie unbeeindruckt, vermied es allerdings, jemanden anzusehen. »Ich schaff das schon.«
»Ich nicht«, ließ Grier vernehmen und erhob sich. »Kein zweites Mal. Wenn ihr bereit seid, drückt einfach Play.«
Die anderen murmelten zustimmend und zogen sich vom Schreibtisch zurück. Obwohl niemand den Raum verließ, schienen alle möglichst viel Distanz zwischen sich und den Bildschirm bringen zu wollen, als verbreite er eine ansteckende Krankheit.
MacLeod beugte sich vor und drückte die Starttaste. Dann stellte er sich neben Tina, und beide sahen zu, wie der Monitor hell wurde und die Aufnahme einer jungen Frau zeigte, die auf einem Bett lag. Tina erkannte sie sofort als Adrienne Menzies, das letzte Opfer, eine dreiunddreißigjährige Controllerin aus Highgate, deren Haare in Farbe und Schnitt den ihren ähnelten und deren DNS sie auf dem Hammer aus Kents Wohnung gefunden hatten. Tina erinnerte sich an das altmodische Kopfteil aus Teakholz, das, wie sie später herausfanden, von Adriennes Vater gedrechselt worden war. Immer behielt man die kleinen Details in Erinnerung, selbst wenn der Schrecken einen zu überwältigen drohte.
Und der Schrecken, der sie hier heimsuchte, war ohne Beispiel.
Adrienne war nackt, ihr Mund war mit Gaffer-Tape verklebt und ihre Glieder mit schwarzen PVC-Bondage-Fesseln ans Bett gebunden. Diese Art Fesseln hatte Kent bei vier seiner fünf Morde verwendet. Die Bildqualität war überraschend gut, Tina konnte sogar die Prellungen und Kratzspuren auf Adriennes Schenkeln und um ihre Brüste herum erkennen. Die Kamera bewegte sich in langsamen, wackligen, für Heimvideos typischen Bewegungen um das Bett und ergötzte sich an Adriennes vergeblichen Versuchen, sich loszureißen. Unter dem Tape drangen erstickte Schreie hervor, die zunehmend verzweifelter und entgrenzter klangen, je mehr Todesangst und Panik von ihr Besitz ergriffen. Auch ihre Augen traten förmlich aus den Höhlen, als wäre die Angst in ihr ein leibhaftiger Dämon, der sich einen Weg nach draußen bahnte.
Der Kameramann hielt inne und fokussierte auf ihr Gesicht, das nun den ganzen Schirm ausfüllte, und Adriennes flehender Ausdruck war fast mehr, als Tina zu ertragen vermochte, zumal sie wusste, was gleich mit dieser hübschen jungen Frau geschehen würde, die bis vor wenigen Stunden ein normales und überwiegend glückliches Leben im Kreis von Freunden und Familie gelebt hatte. Tina war am Tatort gewesen. Hatte in diesem Schlafzimmer gestanden und auf die unidentifizierbare Masse geronnenen Blutes hinabgeschaut, die einst ein Gesicht gewesen
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