Instinkt
und wir brauchen ihn nicht mehr.«
Eisiges Schweigen erfüllte den Bus. Der Augenblick der Entscheidung. Leben oder Tod.
Wolfe nickte bedächtig, als hätte er seine Entscheidung gefällt. »Wenn du nochmal eine Waffe auf mich richtest«, sagte er langsam und betonte jedes einzelne Wort. »Knall ich dich ohne Vorwarnung ab. Hast du mich verstanden?« Ein Moment der Stille. »Ob du mich verstanden hast?«
»Ja«, krächzte ich, und ein Gefühl der Erleichterung durchzuckte mich so heftig, dass ich fast gekotzt hätte.
»Gut«, erwiderte er kalt. Er nahm die Pistole von meiner Stirn und steckte sie in seinen Hosenbund, ehe er die Pumpgun aus meinem Schritt zog.
Und rammte mir ohne eine Miene zu verziehen den Kolben ins Gesicht. Mein ganzes Sein löste sich in einer Explosion des Schmerzes auf.
SIEBENUNDZWANZIG
Tina sog heftig an ihrer Zigarette und wünschte sich sehnlichst einen Drink. Es war zehn vor zehn, mehr als eine Stunde war vergangen, seit sie ihren Focus geschrottet hatte. Die von braven Bürgern bewohnte Doughty Street hatte sich in den Schauplatz eines Kapitalverbrechens verwandelt. An beiden Seiten blockierten Polizeifahrzeuge die Zufahrt, während die Spurensicherung sich die drei involvierten Wagen vornahm, die in die kaltblütige Befreiung Andrew Kents verwickelt gewesen waren.
Die Einzelheiten des Geschehens waren noch ziemlich unklar, aber laut den Augenzeugen, bei denen es sich überwiegend um Polizeibeamte handelte, war es eine sorgfältig geplante und von vier bewaffneten Männern professionell und skrupellos durchgeführte Operation gewesen. Die vier hatten einen der Kent bewachenden Polizisten niedergeschossen. Der siebenundzwanzigjährige Gary Hancock befand sich mittlerweile auf der Intensivstation des University College Hospitals, dort, wo auch Kent hätte hingebracht werden sollen. Über seinen Zustand war noch nichts bekannt. Tina kannte ihn vom Sehen und hatte ihn als netten Burschen in Erinnerung, der sich erst kürzlich mit einer Polizistin aus dem Camdener Revier verlobt hatte.
Wie es schien, hatten sich die Kidnapper in Luft aufgelöst. Ein ausgebrannter Wagen, von dem man annahm, dass es sich um das Fluchtfahrzeug handelte, war in Islington gefunden worden, wo nun alle verfügbaren Kräfte fieberhaft nach den Flüchtigen fahndeten. Sie wurden aus der Luft von Polizeihubschraubern unterstützt, und an allen neuralgischen Punkten North Londons waren Straßensperren errichtet worden. Doch da man nicht wusste, nach welchem Fahrzeug sie suchen sollten, ging Tina davon aus, dass zu viel Zeit verstrichen war, um noch einen schnellen Erfolg zu erzielen.
Der Gedanke machte sie wütend. Die bewaffneten Kidnapper hatten versucht, sie zu töten, und beinahe wäre es ihnen gelungen. Wenn sie und Grier sich nicht rechtzeitig geduckt hätten, würden sie jetzt wie Gary Hancock auf der Intensivstation liegen. Bestenfalls.
Sie würde sie erwischen, schwor sich Tina deshalb. Und Kent auch. Wobei sie sich zum ersten Mal fragte, ob er überhaupt noch am Leben war. Jemand hatte sich verdammt viel Mühe gegeben, ihn zu befreien. Natürlich war es möglich, dass er die Vergiftung nur vorgetäuscht hatte, weil er wusste, dass ihn jemand herausholen würde, aber Tina bezweifelte das. Er hatte ihr noch gesagt, er wolle ihr alles erzählen, wenn sie ihn ins Krankenhaus brächte, doch alles worüber? Er musste der Night Creeper sein, es gab einfach zu viele Indizien, die auf ihn hindeuteten. Trotzdem …
Tina zog ein weiteres Mal an ihrer Zigarette; sie war fest entschlossen herauszufinden, worum es hier ging, selbst wenn es sie eine Woche lang Überstunden kosten würde.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Grier gegenüber den zwei Detectives von Scotland Yard seine Aussage zu Protokoll gab. Die beiden Beamten aus der Abteilung für organisiertes und für Kapitalverbrechen wirkten nicht älter als Grier, der ihnen zweifellos erzählte, welch ein unverantwortlicher Idiot seine Chefin war. Tina fand es schon komisch, dass sie sich mit ihren einunddreißig Jahren bereits als Veteranin fühlte, obwohl sie vor höchstens fünf oder sechs Jahren noch genauso ein Grünschnabel gewesen war wie Grier. Damals hatte sie jede Menge Flausen im Kopf gehabt und mehr Ideale, als ihr guttaten (was sie nie zugegeben hätte). Damals war sie auch noch nicht für die Todesstrafe gewesen. Wie ihre Welt sich verändert hatte. Und nicht zum Guten. Sie hatte so viel durchgemacht, dass sie sich manchmal am liebsten
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