Instinkt
mich und schlug einen Haken, und als die Pumpgun Feuer spie, hechtete ich hinter den Schuppen. Schnell kam ich wieder auf die Beine und rannte um mein Leben.
Schneller, als ich es in meinen besten Zeiten geschafft hätte, erreichte ich die Bäume und warf mich ins Unterholz. Eine weitere Schrotladung pfiff neben mir durch das Blattwerk, doch ich rappelte mich hoch und kämpfte mich durch herabhängende Äste und Sträucher, sprang über ein paar Wasserlöcher und versuchte, so viel Entfernung wie möglich zwischen mich und meinen Verfolger zu bringen, ehe ich schließlich erschöpft stolperte und zu Boden sank.
Ich konnte keine Geräusche meines Verfolgers hören, deshalb glitt ich unter eine Stechpalme und blieb bewegungslos liegen. Nur mein Atem ging in schnellen, hechelnden Stößen, die ich nicht unterdrücken konnte. Der ganze Wald war hell von den Flammen erleuchtet, die vom Haus hoch in den Nachthimmel schlugen. Vorsichtig sah ich mich um und versuchte, mich so unsichtbar wie möglich zu machen.
Zwei Minuten vergingen, Mein Atem beruhigte sich, und ich hoffte schon, das Schlimmste überstanden zu haben.
Dann hörte ich einen Zweig knacken.
Ich wurde schreckensstarr. Als ich den Blick ein wenig hob, konnte ich ein Paar Stiefel erkennen, das langsam, aber zielstrebig durchs Unterholz auf mich zukam. Fünf Meter, vier, drei, zwei. Ich war völlig ausgelaugt, unfähig, mich zu rühren. Fertig und kaputt. Nach all dem, was ich in den letzten Stunden bewältigt hatte, brannte jede Faser meines Körpers. Ich hatte höllische Schmerzen. Immerhin schaffte ich es noch, ruhig dazuliegen und den Atem anzuhalten. Ich hoffte, er möge vorübergehen, aber wenn sich der Lauf senkte und ich die Mündung vor Augen haben sollte, würde ich mich dem, was dann kam, nicht widersetzen.
Einen Meter vor mir blieben die Stiefel stehen. Konnte mein Verfolger mich sehen? Riechen? Mein Körper verkrampfte sich, und wie ein waidwundes Tier erwartete ich den Fangschuss, der allem, was ich je gespürt und erlebt hatte, ein Ende setzen würde.
Doch der Schuss fiel nicht. In der Ferne heulte plötzlich eine Sirene auf, kurz darauf folgte eine zweite. Der Mann, der mich gejagt hatte, drehte sich um und ging davon.
Ich blieb noch lange regungslos liegen und lauschte auf die näher kommenden Sirenen. Obwohl ich noch immer zu erschöpft war, um klar denken zu können, wirbelten mir unablässig zwei Fragen im Kopf herum. Die erste war, warum der Mann mit der Pumpgun versucht hatte, mich zu erschießen und sogar das Risiko eingegangen war, mich in den Wald zu verfolgen. Es musste sich um den Kunden handeln, für den wir gearbeitet hatten, und er hätte eigentlich wissen müssen, dass ich ihn nicht identifizieren konnte.
Die zweite Frage dagegen ließ mir keine Ruhe. Wenn nicht Tyrone Wolfe meinen Bruder ermordet hatte, wer dann?
NEUNUNDDREISSIG
Trotz der späten Stunde war Tina immer noch hellwach. Sie hatte eine Theorie. Sie war ziemlich simpel und weit davon entfernt, wasserdicht zu sein, doch sie stand im Einklang mit den Fakten.
Sie trank ihren Wein aus und spülte mit einem Glas Wasser nach, um einen klaren Kopf zu bekommen, dann loggte sie sich in die CMIT-Datenbank ein, wo die Informationen über die Night-Creeper-Ermittlungen gespeichert waren. Sie arbeitete so zügig, wie sie das nach einem Sechzehn-Stunden-Tag und knapp einer Flasche Rioja konnte, und stieß schnell auf die Zeugenaussagen im Mordfall Roisín O’Neill, die sie überflog. Bei jeder größeren Ermittlung waren die Beamten verpflichtet, möglichst viele Zeugenaussagen einzuholen, um die Chance, etwas zu übersehen, zu minimieren. Im vorliegenden Fall jedoch war die Befragung von Freunden und Familienmitgliedern weniger intensiv durchgeführt worden, da man bereits vermutet hatte, dass es sich um das Werk eines Serienmörders handelte, dessen Motive offensichtlich waren und der in keiner Beziehung zum Opfer stand. Stattdessen hatte man sich Roisíns Nachbarn und all diejenigen vorgenommen, die sich zum Todeszeitpunkt in der Umgebung aufgehalten hatten. Auf diese Zeugen konzentrierte sich Tina.
Doch auch dabei handelte es sich noch um dreiundsechzig Personen, und sie benötigte zwanzig Minuten, ehe sie fand, wonach sie suchte: einen einzelnen Satz in der Aussage der Frau, die in einer der Wohnungen lebte, von denen aus man Roisíns Gebäude überblicken konnte. Es war eine nebenbei gemachte Beobachtung, der man unter normalen Umständen keinerlei Interesse
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