Intensity
hätte, weigerte sie sich, das Aspirin anzurühren. Sie hatte das vielleicht irrationale, aber trotzdem starke Gefühl, daß sie in die seltsamen Räume von Edgler Vess’ Wahnsinn treten würde, sollte sie – auch aus rein medizinischen Gründen – ein paar dieser Tabletten kauen. Das war eine Schwelle, die sie auf keinen Fall überschreiten wollte, auch nicht mit einem Fuß, auch nicht, wenn der andere weiter fest auf dem Boden der Wirklichkeit stehen blieb.
Er spülte die Teller, Schüsseln, Pfannen und Bestecke mit der Hand. Er ging rationell, aber sorgfältig vor und benutzte dampfend heißes Wasser und jede Menge Geschirrspülmittel mit Zitronengeruch.
Chyna hatte noch eine Frage, die nicht ungestellt bleiben durfte, und schließlich sagte sie: »Warum die Templetons? Warum haben Sie ausgerechnet sie ausgesucht? Das war doch kein Zufall, oder? Sie haben doch nicht einfach aufs Geratewohl mitten in der Nacht dort angehalten?«
»Nein, das war kein Zufall«, bestätigte er und schrubbte die Omelettpfanne mit einem Scheuerschwamm aus Kunststoff. »Vor ein paar Wochen war Paul Templeton geschäftlich hier in der Gegend, und als …«
»Sie kannten ihn?«
»Eigentlich nicht. Er war hier in der Gegend, in der Bezirksstadt, geschäftlich, wie ich schon sagte, und als er etwas aus seinem Portemonnaie nahm, um es mir zu zeigen, fiel eine dieser kleinen Plastikhüllen heraus, Sie wissen schon, mit kleinen Fotos darin, und ich habe sie ihm aufgehoben. Eins der Fotos zeigte seine Frau. Ein anderes Laura. Sie sah so … frisch und unverdorben aus. Ich habe so was gesagt wie ›Na, das ist aber ein hübsches Mädchen‹, und Paul war natürlich völlig hingerissen, ganz der stolze Papa. Hat mir erzählt, sie würde bald ihren Magister in Psychologie machen, Notendurchschnitt von eins Komma acht und so weiter. Er würde sie noch immer vermissen, obwohl sie schon sechs Jahre aus dem Haus sei und er sich eigentlich daran gewöhnt haben müßte, und er freue sich schon so auf das Monatsende, denn dann würde Laura über ein verlängertes Wochenende nach Hause kommen. Er hat nicht erwähnt, daß sie eine Freundin mitbringen würde.«
Ein Zufall. Heruntergefallene Fotos. Ein beiläufiger Wortwechsel, eine bloße Plauderei.
Die Willkür war atemberaubend und fast mehr, als Chyna ertragen konnte.
Als sie dann zusah, wie Vess gründlich die Arbeitsplatte säuberte, die Abwaschschüssel ausspülte und die Spüle schrubbte, gelangte sie zu der Einsicht, daß das, was der Familie Templeton zugestoßen war, schlimmer war als bloße Willkür. Diese gewaltsamen Todesfälle kamen ihr nun schicksalhaft vor, wie eine unerbittliche Spirale in die ewige Dunkelheit, als seien sie nur für Edgler Vess geboren worden und hätten einzig für ihn gelebt.
Es war, als sei auch sie nur zur Welt gekommen und habe sich bis heute durchs Leben gequält, um diesem seelenlosen Raubtier einen Augenblick kranker Befriedigung zu bescheren.
Der entsetzlichste Aspekt seiner Streifzüge war nicht der Schmerz und die Furcht, die er verursachte, nicht das Blut, nicht die verstümmelten Leichen. Der Schmerz und die Furcht waren verhältnismäßig kurz, wenn man sie mit der alltäglichen Pein und Lebensangst verglich. Das Blut und die Leichen waren nur ein Nachspiel. Das Entsetzlichste war, daß er dem unvollendeten Leben der Menschen, die er tötete, jede Bedeutung stahl, sich selbst zum primären Sinn ihrer Existenz machte, sie nicht nur ihrer Zeit, sondern auch der Erfüllung beraubte.
Seine niederträchtigsten Sünden waren Neid – auf Schönheit, auf Glück – und Stolz. Er bog sich die ganze Welt so zurecht, daß sie seinem Bild von der Schöpfung entsprach. Und das waren die schwersten Sünden überhaupt, dieselben Verstöße gegen die Weltordnung, wegen derer der Teufel selbst, einst ein Erzengel, gestrauchelt und aus dem Himmel in die Tiefe gestürzt war.
Während Edgler Vess die Teller, Pfannen und Bestecke aus dem Abtropfgestell nahm, mit dem Geschirrtuch abtrocknete und auf das Regal oder in den Schrank sortierte, sah er so rosig sauber wie ein frisch gebadetes Kind und so unschuldig wie ein Neugeborenes aus. Er roch nach Seife, einem guten, belebenden Aftershave und dem Geschirrspülmittel mit Zitronenduft. Doch trotz allem ertappte Chyna sich bei dem abergläubischen Gedanken, sie könne einen Hauch von Schwefelgestank wahrnehmen.
Jedes Leben führte zu einer Reihe leiser Offenbarungen – oder barg zumindest die Möglichkeit von
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